Koch-Kolumne: die Angst der Werber vor der Steinzeit

Seit Ende Mai liegt im Netz kein Stein mehr auf dem anderen. Los Angeles Times und Chicago Tribune, seit jeher Ihre Lieblings-Nachrichtenseiten, waren nicht mehr erreichbar. Europäische Werbeanfragen bei Ad Exchanges fielen um bis zu 40 Prozent. Blogs wurden abgeschaltet. Sogar der ganze Social Media-Dienst Klout. Und die Heimwerker-Community „1-2-do.com“ von Bosch. Der Online-Shop für Bustickets der Stadt Krefeld ebenso. Und wer per Smartphone-App gesteuerte Lampen von Yeelight besitzt, guckte in die Röhre. Gottesdienste werden nicht mehr im Fernsehen übertragen.

Bibi verliert über Nacht 60.000 Twitter-Follower. Die Süddeutsche vermisst angeblich einen Großteil ihrer Newsletter-Abonnenten. Den Chemnitzern kann die Freie Presse nicht mehr zum Geburtstag gratulieren. In der Bewegungs- und Rehabilitationssportgemeinschaft Ingelheim ist sogar der gesamte Vorstand aus Angst zurückgetreten. Pure Angst greift um sich im Lande. Und der Schrecken hat einen Namen: DSGVO. Die neuen Datenschutz-Regeln – der Text ist etwa so lang wie das Neue Testament – waren gedacht als Europas Antwort auf die Vormachtstellung der US-Internet-Giganten Google und Facebook. Und sind am Ende nichts weiter als eine neue, aber dafür sprudelnde Quelle für Abmahn-Anwälte. Derweil lachen sich Google und Facebook ins Fäustchen. Denn sie sind die Einzigen, die von dem EU-Wahnsinn nicht betroffen sind.

Das Ganze nutzt ihnen sogar, da ihnen Regeln per se egal sind, die DSGVO aber unsere Unternehmen in Geißelhaft nimmt. Dafür ein tosendes „Clap“ an die EU. Doch über wen ich mir wirklich Sorgen mache, sind unsere Online-Werbefuzzis. Wenn sie dank E-Privacy-Verordnung auch keine Plätzchen (neudeutsch: cookies) mehr setzen dürfen, um uns mit ihrer Werbung für Toaster, Hotels und Sneaker hinterherzuschnüffeln. Um mir meine liebgewordene Reklame für Doppelherz, Hörgeräte und Treppenlifte auszuliefern. Was soll aus ihnen bloß werden? Retargeting ist zwar ein Online-Geschwür, auf das wir alle verzichten können, aber was ist mit Micro-Targeting? Bin ich ein Kölner (Schäl Sick, versteht sich) Kaninchenzüchter mit Schrebergarten, habe ich doch Anspruch auf eine gezielte Ansprache meiner Sorgen und Nöte.

Oder wie erreichen wir künftig Mediaplaner in Düsseldorf, die auf der Suche nach dem geheimnisvollen Dreisatz sind? Ohne ihr Online-Spielzeug droht den Digitalwerbern ein Rückfall in die Werbe-Steinzeit. Ich sehe sie schon, die ehemaligen Online-Planer. Wie sie in ihren Media-Höhlen sitzen und Stöckchen aneinander reiben, um etwas Feuer, ein kleinwenig Aufmerksamkeit für ihre Botschaften zu entzünden. Sie werden auch das Rad neu erfinden müssen. Vielleicht entwickeln sie später Papyrus, das sich mit Blödeleien von Check24 beschriften lässt. Womöglich noch den Buchdruck. Und kurz bevor einer von ihnen das Internet neu erfindet, wird er von seinen Stammesgefährten erschlagen. Nein, nicht schon wieder, werden sie sagen. Nachher kommt noch ein Harvard-Student daher, der ein öffentliches Bewertungssystem für das Aussehen von Kommilitoninnen erfindet. Steinigt ihn!

Text: Thomas Koch

Foto: Alexander von Spreti