Der Berserker

Seine Kritiker bezeichnen ihn als unangenehm, reizbar, ja als Arschloch. Für seine Fans ist er einer der Bedeutendsten seiner Zunft: Der Journalist und Autor Matthias Matussek bringt die Herzen von Freund und Feind zum Brennen, kennt in seinem heroischen Kampf für Gott und Vaterland nicht Schmerz noch Wunden. Dabei treibt diese so verletzliche Seele vor allem die Sehnsucht nach Erlösung, wie Matussek im Clap-Gespräch an privater Stätte offenbart.

„Ich bin der Sohn der Revoluzion und greife wieder zu den gefeyten Waffen“ – hätte nicht der große deutsche Polemiker Heinrich Heine diesen Satz vor bald zwei Jahrhunderten geprägt, er wäre Matthias Matussek entsprungen. Seine Waffen sind Worte, gewählt „gleich flammenden Sternen, die aus der Höhe herabschießen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten“, wie Heine in seinen Briefen aus Helgoland so berückend eindringlich formuliert. Matussek ist ein literarischer Berserker, dessen schöpferische Kraft sich aus innerem Zorn und ewiglichem Sendungsbewusstsein nährt. Selbst wenn er nur dasitzt, verbreitet er eine anklagende Stille.

So wie jetzt, am heimischen Küchentisch, ein Abbild seines unaufgeräumten Ich. Matussek hat in seine Wohnung im feinen Hamburger Stadtteil Uhlenhorst geladen, gelegen im fünften Stock eines weißen Jugendstilhauses. Hier lebt der „Spiegel“- und Buchautor mit Frau und Sohn, seit er vor sieben Jahren von der Themse an die Außenalster zurückgekehrt war. In London hatte Matussek für die Nachrichtenillustrierte korrespondiert, stieg 2005 dann zum „Spiegel“-Kulturchef auf und bald schon – angeblich wegen seiner schlechten Manieren – wieder ab. Matussek selbst verklärt den Vorgang mit Personalwechseln an der Redaktionsspitze. Während sich seine Monologe bisweilen zum glühenden Tremolo steigern und er unverfroren deutsche Lyriker, amerikanische Beat-Poeten und katholische Glaubensgrundsätze zitiert, kriechen Matusseks rostbraune Schweinsäuglein unter den Tisch. Durchwandern den Raum, angelegt als Patchwork seines Lebenswerks: eine Madonna aus Quito, die mannshohe Giraffe aus Lima, ein Ölschinken, der Kolumbus’ Ankunft in Amerika glorifiziert. Dazu ein Stilmix aus antikem und modernem Mobiliar. Nichts passt zusammen und damit doch alles. Nur die gerahmten Amazonas-Schmetterlinge an der Wand provozieren durch ihre Akkuratesse.

Pathologischer Angriffsmodus

Matussek lässt seine verglimmende Marlboro ersterben, ergreift den Hefemohnzopf, der ihm am Abend zuvor nach einer Lesung aus seinem neuen Buch („Die Apokalypse nach Richard“) überreicht worden war, reißt mit dem Küchenmesser ein bald faustdickes Stück ab. Räsoniert wie beiläufig über Novalis’ Worterregungskunst. „Ich will meine Gedanken in die Köpfe der Menschen kriegen, und wenn ich sie ihnen reinschraube. Oder reindüble. Das geht nur über einen plastischen Ausdruck, über eine Erregtheit.“ Dabei vermeidet Matussek, so gut es geht, direkten Blickkontakt: „Ich bin eigentlich schüchtern, aber auch gleichzeitig sehr respektlos.“ Im fehlt der Zwischenraum, diese taktische Zwischennähe. Entweder ganz nah oder ganz weit weg – sehr katholisch eben. Mit seinem pathologischen Angriffsmodus hat der inzwischen 58-Jährige ein starkes Energiefeld um die verletzliche Seele errichtet: „Ich selbst empfinde mich als äußerst harmoniesüchtig, ich möchte wirklich gern mit allen klarkommen.“ Nur findet er leider selten Zeit dafür. Denn der Kampf ruft, und es gibt viel zu kämpfen. Dagegen, dass wir Menschen uns zusehends verdinglichen, die Sünde sich als metaphysisches Phänomen auflöst oder die Familie als kleinste Zelle der Gesellschaft geschliffen ist bis auf ihre Grundfesten.

In diesem Lichte betrachtet, ist Matusseks selbst von seinen Gegnern gelobter neuer Roman – neben einem Plädoyer für die Existenz Gottes – vor allem eine Ode an die Familie. „Ich spüre in mir eine Grundsehnsucht nach intakten Verhältnissen“, sagt er und bekennt zugleich, er sei ein schlechter Vater („Bin zu inkonsequent, zu emotional“). Wohl, weil Matussek selbst als unerziehbar gilt. Sein Temperament zu zähmen, ihn zu disziplinieren, das habe „nie geklappt“ – Triumph klingt aus seiner Stimme. „Ich habe ein großes Problem: Wenn ich Verbotsschilder sehe, muss ich diese Regeln einfach brechen.“ Er kann halt nicht gegen seine Natur.

Um die Wette kiffen

Matussek macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, etwa wenn er Michel Friedman im TV-Talk öffentlich als Schmierenkomödianten tituliert. Aber woher rührt diese inkarnierte Disziplinlosigkeit, die ihm auf der Journalistenschule eine Abmahnung einbrachte? Dabei war Matussek nur in voller Montur in den Unterricht geplatzt, um Ausschau zu halten nach dem einen oder der anderen, die sich mit ihm vom Lehrplan auf die Skipiste verabschieden wollten. Genau genommen versteht er bis heute nicht, warum das Ärger gab. Zur Strafe musste er zum Praktikum bei der „tz“, dem damals schlechteren der beiden Münchner Boulevardblätter.

Matthias Matussek

Woher also rührt Matusseks Disziplinlosigkeit? „Na ja, ich bin eines von fünf Kindern, und wir waren ein ziemlich wilder Haufen. Aber ich war immer derjenige, der die meiste Scheiße gebaut hat.“ Von Jugend an bewegte sich Matussek instinktiv und konsequent außerhalb der Norm, „weil das die spannendere Position ist, in der man die klareren Gedanken hat“. Mit 16 büxte er von zu Hause aus, zog in eine maoistische WG, ging dann nach Indien, wo er auf der Suche nach Erleuchtung mit den indischen Sadhus um die Wette kiffte.

Irgendwann, nach einem Intermezzo beim Bayerischen Fernsehen, trieb es Matussek nach Berlin zum „Abend“, der Liebe wegen und um dem Wehrdienst zu entkommen. Bund weg, aber auch Liebe weg, nur Berlin noch da – in Gestalt der Einzimmerwohnung eines Junkies in Charlottenburg, bei dem schon 17 andere Leute polizeilich gemeldet waren. Es folgte eine vergleichsweise geordnete Zeit mit Engagements beim „Stern“ und beim „Spiegel“. Letzteres war sein privates Glück, lernte Matussek doch als Ostberlin-Korrespondent 1990 im Roten Rathaus diese junge, gerade aus Moskau zurückgekehrte Slawistin kennen, seine spätere Frau.

Öffentliches Erregungspotenzial

Doch auch ihr gelang es in all den Jahren nicht wirklich, Matussek den Sattel aufzulegen. Er müsse halt immer – unterbricht den Satz, stammelt dann, er habe auch keine Erklärung. „Ich krieg natürlich auch genug auf die Schnauze, das ist die Kehrseite der Disziplinlosigkeit. Und nun marschiere ich so langsam auf die 60 zu und denke mir: Irgendwann musst du ja endlich mal erwachsen werden.“ Aber so ist es halt. So ist er halt. Es paart sich ja auch: „Ich suche mir die Themen, und die Themen suchen mich.“ Meist sind es solche mit hohem öffentlichem Erregungspotenzial – und scharfe Geschosse gegen das „alberne Tingeltangel“ seiner Zunft.

Es gebe „mittlerweile eine Backform für Journalismus“. Dass die Leute sich selber nicht mehr überraschen lassen, durch ihre Gedanken. „Die wissen, was eine technisch gut geschriebene Geschichte ist und liefern perfekt. Aber sie lassen sich nicht mehr durch Widersprüche, durch Abgründe oder schwarze Löcher verunsichern.“ Für jeden Journalisten sei es sicher hilfreich, nicht nur Society-Reportagen zu machen, sondern auch „Bohrloch 7“ zu kennen, Limok isten ausgetragen oder bei der Post gearbeitet zu haben. Oder am Band von Gillette, wo Matussek, ums zu ertragen, die „Sonette an Orpheus“ auswendig lernte, während die Maschine stampfte.

Alles sei sehr viel braver geworden, jeder arbeite nur noch nach der Maxime, keine Fehler zu machen. Ohne eine gewisse Verrücktheit könne aber kein spannender Journalismus entstehen. „Und ich behaupte, dass eine solche auch in Führungsverantwortung bisweilen nicht schlecht ist. Der Welt fehlt die Utopie, der Welt fehlt dieser Aufbruch in die Sterne. Die Erregung darüber, dass man es ganz anders macht.“ Deutschland sei von der Angstgesellschaft, gegen die seine Generation noch gekämpft habe, zur Leistungsgesellschaft mutiert. „Wir gönnen uns einfach nicht mehr die Fehler, die man auch machen muss – der Kerkermeister wohnt in uns.“

Zweifel in stillen Momenten

Matussek ist es spürbar ein Anliegen, die Spinner, die Wahnsinnigen, die Aussteiger mit ihrem Traumpotenzial „ein bisschen ernster zu nehmen, weil die uns was zu sagen haben. Ein wenig so ist es ja mit der Religion. Mein Bekenntnis zum Katholizismus ist ja letztlich nicht nur Glaube, sondern auch eines zu einer Art ,frommer Verrücktheit‘: sich nicht damit zufriedenzugeben, wie es ist, sondern sich auf eine andere Wirklichkeit vorzubereiten“.

In stillen Momenten bekennt Matussek, dass auch er bisweilen Zweifel hat. Jeder hat sie wohl, muss sie auch haben. Aber: „Im Grunde genommen ist die Frage, ob es Gott gibt, die wichtigste überhaupt.“ Gibt es ihn denn? Ja, sagt er fest, „ich kann mir sonst die Schöpfung nicht erklären und mich selber auch nicht. Gott ist schon deshalb unverzichtbar, weil er uns hilft, uns über uns hinauszustrecken“. Ohne Gott wäre die Menschheit auf einem „gestaltlosen, blinden Marsch in die ewige Nacht. Das wäre für mich die Urkunde der Sinnlosigkeit“. Glaube habe ja auch viel mit Gefühl zu tun – für ihn, Matussek, zumindest. Auch die Figur Roman in seinem Buch setzt sich intensiv mit der Frage nach Gott auseinander. Zeilenweise liest sich das Werk durchaus autobiografisch. „Klar hat es mir Spaß gemacht, Roman als wütenden, asozialen Typ zu zeichnen, als den ihn die anderen sehen.“ Und dann ist da noch die Hauptfigur, Richard, eine unglaublich positive, glückhafte Erscheinung, weil sie über allem steht. Beginnt Matussek allmählich loszulassen?

Gott bewahre! Noch ist er auf Wanderschaft. Noch sucht er nach dem Sinn des Lebens – oder, wie er es formuliert, nach seinem ganz persönlichen Auftrag. „Wenn ich bete, dann bitte ich darum, dass der Herr mir noch deutlicher macht, was er mit mir vorhat.“ Wenn es Gott nicht gibt, schrieb einmal Dostojewski, dann könnten wir auch morden. Er glaube fest an das Gebot der Nächstenliebe und der Mitmenschlichkeit, so Matussek. Dazu zählt er auch seine Aufgabe als Ehemann und Familienvater. „Das Leben hat einen Sinn, und ich glaube, das Beste kommt noch. Aber die Suche nach dieser eigenen Bestimmung, die geht bis zum letzten Atemzug.“

(Text: Bijan Peymani, Fotos: Frank Siemers, Montage: Bulo)