Bereits etliche Jahre lebt und arbeitet der frühere Dmexco-Macher Christian Muche in Neuseeland. Genauer gesagt hat er sich in Nelson mit seiner Familie niedergelassen, eine Stadt auf der Südinsel des Inselstaats. Von dort aus beobachtete er in den vergangenen Wochen den Ausbruch des Corona-Virus in Europa mit einer gewissen Distanz. Für uns hat er aufgeschrieben, wie die Kiwis sich auf die Lage eingestellt haben und was ihn an der deutschen Lösung enttäuscht.
NELSON, Neuseeland — „Eigentlich ist in den letzten Wochen alles zum Coronavirus gesagt worden – von den Medizinern, den Politikern, den Wirtschaftsvertretern und Lobbyisten und den unzähligen Möchtegern- und Hobby-Journalisten die ihre Meinung zu jedem einzelnen Detail dieser Gesundheitskrise ausführlich in den sozialen Medien darlegen. Hinzu kommt die massiv gesteigerte Anzahl von Fake-News und bewussten Falschmeldungen sowie die Verzerrung und Missinterpretation von Statistiken und Zahlen, die offensichtlich nur dem Zweck dienen, die ohnehin verunsicherten Menschen weiter zu verängstigen, zu manipulieren und irrationale Entscheidungen zum Schaden ganzer Länder und Industrien zu erzwingen.
Wären da nicht die tagtäglichen Bombardements von Breaking News-Updates der Medien zu den neuesten Infektionszahlen, Todesfällen und sich überbietenden Maßnahmen der Regierungen die vordergründig für immer neue „Spannung“ sorgen. Demgegenüber ist es natürlich nur verständlich, dass ein jeder von uns nahezu täglich auf einen medizinischen Durchbruch für ein neues Medikament oder eine Impfung hofft oder auch vermeintliche Zwischenerfolge wie einen ausreichenden Schutz der Bedürftigsten unter uns und des zahlreichen Hilfspersonals zunächst für eine gewisse Erleichterung sorgen – wenn man denn diesen Meldungen überhaupt noch Glauben schenken darf. Denn so wie es unbestritten in allen Ländern dieser Welt eine unglaublich hohe Dunkelziffer an infizierten Menschen und COVID-19 Todesfällen gibt, so weiß zumindest ich oftmals nicht mehr, welchen Aussagen man von welcher Seite grundsätzlich noch Glauben schenken kann.
Durch meine vielen Gespräche weiß ich, dass es durchaus vielen anderen so geht und dies führt in der Konsequenz zu hoch kontroversen Diskussionen und einer ausgeprägten Skepsis gegenüber den präsentierten Zahlen, aufgelegten Studien, entwickelten Strategien und Einschätzungen, die dadurch bereits gefühlt wieder kontraproduktiv wirken. So wie kein Land in dieser aktuellen Krise auch nur ansatzweise vorbereitet genug war und durchgängig angemessen agiert hat, so möchte ich doch meinen persönlichen Eindruck aus meiner Wahlheimat Neuseeland schildern. Die hier gelebte Mentalität des fast schon bedingungslosen Zusammenhalts, der gegenseitigen, respektvollen Unterstützung und der Glaube an die handelnden Personen ist die aus meiner Sicht vielversprechendste Strategie für Gesellschaften und ihrer Menschen.
Es ist nunmehr drei Wochen her, dass Neuseeland eine so strenge Coronavirus-Sperre verhängte, dass sämtliche Außenaktivitäten innerhalb von 48 Stunden verboten wurden obwohl die bis dahin offiziellen Infektionszahlen von 102 Personen geradezu „lächerlich“ gering im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern waren. Zwischen der Ankündigung am 23. März und dem finalen Lockdown am 25. März wurden alle Geschäfte, sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel, Flüge, Zugverbindungen, öffentlichen Einrichtungen und sämtliche Dienstleistungen geschlossen und eingestellt. Von diesem Mittwochabend an mussten alle Menschen im Land vier Wochen zu Hause bleiben, es sei denn, sie arbeiteten in einem wesentlichen Job, wie der Gesundheitsversorgung oder in einem Supermarkt. Die Grenzen wurden für alle Nicht-Neuseeländer geschlossen und lediglich Supermärkte und natürlich die medizinischen Einrichtungen blieben geöffnet und verfügbar.
Das Land wurde regelrecht abgeschaltet. Wenige Stunden vor Mitternacht ertönte auf jedem einzelnen Smartphone oder Smartwatch eine Sirene, die folgenden Textalarm an jede Person in Neuseeland übermittelte: „Handeln Sie, als hätten Sie COVID-19. Das wird Leben retten“, hieß es in Anspielung auf die durch das neuartige Coronavirus verursachte Krankheit. „Lasst uns alle unseren Teil dazu beitragen, sich gegen COVID-19 zu vereinen.“ Von Anfang an haben Premierministerin Jacinda Ardern und ihr Regierungsteam in einfacher Sprache gesprochen: Bleibt zu Hause. Habt keinen Kontakt mit jemandem außerhalb des eigenen Haushalts, Eurer „Bubble“. Bleibt freundlich und rücksichtsvoll miteinander. Und sogar die Politik tanzt in diesen Tagen sogar aus der Reihe, denn die oppositionelle Mitte-Rechts-Partei hat zu Beginn der Pandemie beschlossen, die Aktionen und Beschlüsse der Regierung nicht zu kritisieren und sie tatsächlich dabei vorbehaltlos zu unterstützen.
Es dauerte nur 10 Tage, bis es erste Anzeichen dafür gab, dass der Ansatz hier – nämlich die „Beseitigung“ und nicht nur das Ziel einer Eindämmung wie in Deutschland oder der Vereinigten Staaten – funktioniert. Bereits nach zwei Wochen des Lockdowns begann die Zahl der neuen Fälle zu sinken, trotz eines spürbaren Anstiegs der Tests. Gleichzeitig überstieg die Zahl der Menschen, die sich von der Krankheit erholt hatten, die Zahl der täglichen Infektionen. Bis zum heutigen Tag vermeldet das Land „lediglich“ 10 Todesfälle. Während andere westliche Länder versucht haben, die Krankheit lediglich zu verlangsamen und „die Kurve abzuflachen“, hat Neuseeland versucht, sie vollständig auszumerzen. Diese Bemühungen scheinen sich auszuzahlen, auch wenn das Ziel noch längst nicht erreicht ist.
Und obwohl dieses Jahr der Sommer und das schöne Wetter deutlich länger anhält und auch die Kiwis ungeduldig auf eine Lockerung des Lockdowns hofften, wurden für das vergangene Osterwochenende landesweite Straßensperren errichtet um die vereinzelte Missachtung der „Stay-at-home“ Regeln einzudämmen. Premierministerin Jacinda Ardern beharrt darauf, dass Neuseeland vier Wochen Sperre – zwei volle 14-tägige Inkubationszyklen – absolvieren wird, bevor sie überhaupt über eine Rückstufung von der höchsten Alert-Stufe 4 auf das mit der aktuellen deutschen Regelung der deutlichen Ausgangsbeschränkungen vergleichbare Alert-Level 3 entscheidet.
Ein Land wie Neuseeland welches so stark unter anderem vom Tourismus abhängt – es kommen etwa 4,3 Millionen internationale Besucher pro Jahr ins Land – hat zudem das bisher Undenkbare getan: Es hat seine Grenzen für Ausländer am 19. März vollständig geschlossen. Selbst die zurückkommenden Neuseeländer müssen zwangsweise für 14 Tage in eine spezielle Unterkunft direkt am Flughafen von Auckland, welches von der Regierung angemietet und für eine solche Quarantänemaßnahme umfunktioniert wurde. Seit geraumer Zeit gibt es auch nur noch eine internationale Linienflugverbindung mit Qatar Airways was zu derart skurrilen Erlebnissen führt, das auf den derzeitigen 18-stündigen Langstreckenflügen von Qatar nach Auckland im Schnitt nur drei Passagiere an Bord sind.
In Anbetracht der zur Verfügung stehenden unglaublichen Vielzahl von Informationen erscheint die Coronavirus-Krise uns alle jetzt bereits zu überfordern und verhindert oftmals eine sachliche und bedächtige Auseinandersetzung mit den Themen und den Herausforderungen eines jeden Einzelnen von uns. Setze ich die aktuellen Ereignisse noch in einen Gesamtkontext der bis dato prägenden Entwicklungen wie die anhaltenden Auswirkungen der Globalisierung, der Konsequenzen der Digitalisierung, der jahrelang vernachlässigten Umweltthemen, der sich dramatisch verändernden Gesellschaften, der anhaltenden respektive weiter um sich greifenden Flüchtlingskrisen oder einer möglicherweise neuen Finanzkrise, darf es nicht wundern warum sich eine größer werdende Anzahl von Menschen überfordert, verunsichert und teils orientierungslos fühlt.
Der Bogen der Belastbarkeit wird für Mensch, Gesellschaft und Wirtschaft irgendwann überspannt sein. Gerade in der aktuellen besonderen Situation würde ich mir daher wünschen, dass die Menschen in Ländern wie Deutschland mit (noch) funktionierenden Demokratien und einem immer noch überdurchschnittlich hohen Lebensstandard einmal ihren gewählten Politikern und Krisenmanagern das nötige Vertrauen entgegenbringen und sie handeln lassen bis die erkennbaren Ergebnisse vorliegen. Dann bliebe immer noch Zeit für ein Urteil. Stattdessen zwingt sich mir der Eindruck auf, dass trotz der Aussnahmesituation immer noch das gleiche Verhaltensmuster aus dem Alltag wie zuvor an den Tag gelegt wird: „blaming each other“ wo es nur geht um Eigeninteressen durchzusetzen, seine Pfründe zu verteidigen oder sei es auch nur aus Prinzip!
Die Menschheit befindet sich derzeit in einer globalen Krise. Vielleicht die größte Krise unserer Generation. Die Entscheidungen, die Experten und Regierungen in den nächsten Wochen treffen, werden die Welt wahrscheinlich noch Jahre prägen. Sie werden nicht nur unsere Gesundheitssysteme, sondern auch unsere Wirtschaft, Politik und Kultur prägen. Es bedarf schneller und konsequenter Entscheidungen und wir müssen dabei auch die langfristigen Folgen unseres Handelns berücksichtigen. Bei der Wahl zwischen den Alternativen sollten wir uns nicht nur fragen, wie wir die unmittelbare Bedrohung des COVID-19 Virus überwinden können, sondern auch, welche Art von Welt wir bewohnen werden, sobald die Krise vorbei ist. Und ja, diese Krise wird vorübergehen, die Menschheit wird überleben, die meisten von uns werden noch am Leben sein – aber wir werden eine andere Welt bewohnen. Viele kurzfristige Sofortmaßnahmen werden zu einem festen Bestandteil des Lebens. Das liegt in der Natur von Krisen.
Sie beschleunigen historische Prozesse. Entscheidungen, die in normalen Zeiten jahrelange Beratungen in Anspruch nehmen könnten, werden in wenigen Stunden getroffen. Unreife und sogar gefährliche Technologien werden in Betrieb genommen, weil die Risiken, nichts zu tun, größer sind. Doch ist es immer noch besser etwas zu tun und einen bestimmten Weg einzuschlagen, als die Dinge zu zerreden und madig zu machen. Für diese Entscheidungen haben wir unsere Regierungen gewählt und zusammen mit den vielfachen Experten und den politischen Kontrollmechanismen sollten wir das Vertrauen aufbringen und uns auf das konzentrieren was wir selbst in dieser Situation leisten können: nämlich auf uns und unsere Mitmenschen achten, gegenseitigen Respekt zeigen und persönliche Konsequenzen für jeden von uns ziehen.“
Christian Muche
April 15, 2020