Clap-Portrait Julia Krittian: Die Hoffentliche

Es ist ein Nebenschauplatz, der sich in den Medien aufschaukelte: Der MDR will offensichtlich zwei gebürtige Ostdeutsche als Moderatoren für sein Mittagsmagazin einsetzen. Die früheren RBB-Moderatoren mit Migrationshintergrund, die sich nicht beworben haben,  kamen nicht in die engere Auswahl. Das war ein Grund für eine Reihe von kritischen Berichten.

Unter anderem textete die „Süddeutsche Zeitung“, die nicht unbedingt für die Förderung von ostdeutschen Redakteuren bekannt ist, in der Überschrift: „Leipziger Qualifikation„.  Dabei gibt es seit vielen Jahren eine eklatante Unterbesetzung von Ostdeutschen in der Medienbranche. Das bemerkte schon der frühere ARD-Intendant Tom Buhrow, der sich dann und wann für ostdeutsche Interessen bei den öffentlich-rechtlichen Sendern eingesetzt hatte. Und nebenbei bemerkt – vor dem RBB kam das Mittagsmagazin vom Bayerischen Rundfunk und im Einsatz waren – surprise – bayerische Moderatoren. Nichts Neues also an dieser Stelle. Aber wer ist die in die Kritik geratene MDR-Chefredakteurin? Wir hatten Julia Krittian im letzten Jahr im Clap-Portrait von Bijan Peymani, welches wir aus aktuellem Anlass online stellen. 

Die Hoffentliche 

Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist Julia Krittian ein Licht der Hoffnung. Die neue MDR-Chefredakteurin gilt als persönlich integer und fachlich unabhängig – dem System nicht zwingend inhärent. Doch auch sie kämpft gegen Vorurteile und Verfehlungen. Da helfe es im Alltag bisweilen, grundlos loszulachen, verrät Krittian im Clap-Gespräch.

Wer sich dieser Tage mit Protagonisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks konfrontiert, der kann seinen Beißreflex nur mühsam kontrollieren. Zu krass die Verquickung von beruflichen und privaten Interessen, die Fälle missbrauchter Ämter und persönlicher Bereicherung. Noch sehr viel schwerer wiegt indes die mutmaßlich systematische Verletzung des journalistischen Ethos’. Ex-ARD-Chefin und Ex-RBB-Intendantin Patricia Schlesinger als Sonnenkönigin? Geschenkt, angesichts der kolportierten gesteuerten Berichterstattung beim NDR!

Julia Krittian ist auch so ein öffentlich-rechtliches Geschöpf, und schon deshalb will man sie eigentlich nicht mögen. In gut zwei Jahrzehnten hat sich die zweifache Mutter innerhalb der ARD von der WDR-Volontärin bis zur MDR-Chefredakteurin hochgedient. Als „Stimme des Ostens“ (MDR-Eigenwerbung) gilt die Landesrundfunkanstalt für Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen als quotenstärkster ARD-Sender. Krittian kann also nicht irgendwer sein – im Gegenteil: Der Top-Job, den sie seit 1. August bekleidet, wurde eigens für sie geschaffen.

Medienübergreifend will Krittian vom MDR-Sitz in Leipzig aus den Osten und die gesamte Republik informieren und innovieren. Vielleicht nicht gleich die Welt, aber doch mindestens das öffentlich-rechtliche System retten. Dieses befinde sich im tiefgreifenden Wandel, „dabei will und werde ich mit viel Elan meinen Teil beitragen“. Sie sei „wirklich und gerade jetzt öffentlich-rechtliche Journalistin aus Überzeugung“, glaubt sich unverzichtbar: „Demokratie braucht informierte Bürgerinnen und Bürger und ein gemeinsames Fundament an Fakten.“

Wie Krittian das so dahin stellt, wirkt es erst einmal überzeugend oder jedenfalls nicht falsch. Und doch klingt ihre Fürsprache fürs Öffentlich-Rechtliche eher wie eine Fürbitte. Oder wie das Pfeifen im Walde, mit dem ein in der Existenz bedrohtes System durch das Signalisieren seines Revieranspruchs von der eigenen Unterlegenheitsangst ablenkt. Traut man Umfragen, zerbröseln Glaubwürdigkeits- und Vertrauenswerte etablierter Medienangebote hierzulande rasant – nach einem Zwischenhoch während der Corona-Phase. Und das durch alle Schichten.

So sehr sich der MDR der ARD-Doktrin unterwirft, in punkto Nachrichtenkompetenz mag er auszunehmen sein. Vielleicht, weil er als Letzter im Verbund statt der „tagesschau“ auf eigene Info-Formate setzt. „Aus der Überzeugung, dass es für unsere Region eine entsprechende Einordnung und Herangehensweise braucht“, wie Krittian erklärt, „und aus dem Wissen, dass unser Publikum von uns zu Recht erwartet, dass wir ihm die großen Nachrichten in ihrer Bedeutung für die und aus der Region erklären und Zusammenhänge aufzeigen“. Das schaffe Vertrauen – und Quoten für die News von regelmäßig bis zu 30 Prozent, bilanziert Krittian.

Mit dem Umbau der Chefredaktion würden „Content- und Produkt-Denke“ nun gemeinsam abgebildet und strukturell verankert, direkt am Programm, nah an den Redaktionen – „in der Form meines Wissens nach einmalig innerhalb der ARD“. Krittians Vorgänger wurden intern recycelt: Der bisherige Chefredakteur Fernsehen, Torsten Peuker, ist in der Programmplanung nun direkt MDR-Programmdirektor Klaus Brinkbäumer unterstellt. Und Jana Hahn, Ex-Chefredakteurin Hörfunk, bürgt jetzt für das seit drei Jahren laufende Qualitätsmanagement.

Mit Vize Matthias Montag, bislang Geschäftsführer der MDR-/ZDF-Digitalagentur „Ida“, hat Krittian einen IT-Einpeitscher an ihrer Seite. „Es gibt natürlich noch Kolleginnen und Kollegen, die stark auf lineare Formate gepolt sind“, sagt sie und beeilt sich hinzuzufügen, selbstverständlich spürten alle, „dass ein zeitgemäßer öffentlich-rechtlicher Rundfunk Menschen überall da erreichen muss, wo sie Medienangebote und Informationen suchen.“

Montag soll für den „digitalen Knowhow-Transfer innerhalb der neuen Chefredaktion und der drei Landesfunkhäuser“ sorgen. Sie selbst nimmt unter anderem das News-Format „MDR Aktuell“ auf allen Ausspielwegen, das „Team Wirtschaft“, „OstDok“, die Programmschiene am Nachmittag und die Magazinformate unter ihre Fittiche. Etwa „Brisant“ mit seinen boulevardesken Themen. Dort steht eine Zäsur an, seit bekannt ist, dass sich Moderatorin Mareile Höppner nach gut 14 Jahren in Richtung RTL verabschiedet.

Ab dem 1. Dezember übernimmt Marwa Eldessouky, Berlinerin mit ägyptischen Wurzeln. „Glücklich“ sei sie über ihre erste journalistische Personalentscheidung, bekennt Krittian und verwehrt sich gegen jede Unterstellung gewollter Diversität: „Es geht generell um mehr weibliche Stimmen, den ländlichen Raum, verschiedene Bildungshintergründe und selbstverständlich auch um Menschen mit Migrationsgeschichte, Aber das ist eben nur ein Teil unseres 360°-Vielfältigkeitsblicks, hier beim MDR.“

Krittian will für möglichst viele Perspektiven sorgen, lobt Eldessouky für ihre „zugewandte Neugier, ihre Ausstrahlung und Fröhlichkeit“. Das ist nicht das Einzige, was diese beiden Frauen verbindet. Krittian hat ihre ersten sechs Lebensjahre ebenfalls in Ägypten verbracht. Der Vater unterrichtete damals Mathe und Physik an der deutschen Auslandsschule in Kairo. „Meine Eltern wohnten bereits dort, beherrschten aber die Sprache noch zu wenig. Also flog meine Mutter hochschwanger mit mir nach Deutschland“, erklärt die inzwischen 42-Jährige.

Sie sei dann in Karlsruhe zur Welt gekommen, „zur Stadt selbst habe ich kaum Verbindung“. Aufs Gymnasium ging Krittian in Toulouse, studierte in Leipzig und Palermo. Fühlt sich in Leipzig zuhause und als Europäerin, wie sie bekennt: „Für mich persönlich sind – aus dem eigenen Lebensweg heraus – vielfältige Perspektiven schon immer extrem wichtig gewesen“. Darin liege „ein Schlüssel zum Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk: gelebte Perspektivenvielfalt, die die ganz unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten abbildet“. Die viel beschworene Vielfältigkeit reduziert sich bei Lichte auf aktuelle Gesellschaftsströmungen.

Vier Sprachen spricht Krittian fließend, neben Deutsch und Englisch auch Französisch und Italienisch. Ihr Arabisch ist ebenso verschütt gegangen wie das Türkisch. Letzteres hatte sie 2006 zu lernen begonnen, während eines zweimonatigen Stipendiums bei einem türkischen TV-Sender im Rahmen des „International Journalism Programs“. Als Volontärin beim WDR bemerkte sie: Zu wenige Journalisten hierzulande beherrschen Türkisch, zu wenige befassen sich mit der türkischen Gemeinde in Deutschland. Dagegen wollte sie ein Zeichen setzen.

Den Heimatbegriff kann Krittian für sich nicht fassen, jedenfalls nicht geografisch: „Es hat eher mit Menschen zu tun. Dass Herkunft und Heimat nicht immer deckungsgleich sind, ist Teil der Perspektivenvielfalt. Was mich prägt, ist eine Neugierde auf Menschen.“ Und ihr ausgesprochener Familiensinn. Als Sandwich-Kind zwischen dem zwei Jahre älteren Bruder und der acht Jahre jüngeren Schwester gibt ihr Familie Halt. Mit der Mutter, die ihr über die Jahre auch zu einer Freundin geworden ist, verbindet sie ein besonders enges Verhältnis.

Wer mit Krittian Umgang hat, der lobt ihre Offenheit, ihre fundierte Begeisterungsfähigkeit. Pragmatisch sei sie, ideenreich. Und beseelt von einem Optimismus, der nie aufgesetzt oder den Umständen unterworfen wirkt. Die bekennende Bücherratte mit einem Instinkt für den besten Kaffee in jeder Stadt („ein Talent seit meiner Italien-Studienzeit“) zeichnet ein Gespür für den Moment aus, für Stimmungen. Aber auch ein Gestaltungswille, der zum sturen Drang modulieren kann. Dann dient ihre Empathiefähigkeit der Entwaffnung ihres Gegenübers.

Krittian „möchte Dinge bewegen und kann da sehr hartnäckig sein“. Diese „Prädisposition“, wie sie es selbstironisch nennt, schiebt sie auf ihren Ur-Ur-Ur-Großvater Josef Ludwig Franz Ressel. Der war ein österreichisch-böhmischer Forstbeamter und Tüftler. Ressel gilt als einer der Erfinder des Schiffspropellers (vulgo: Schiffsschraube), und zwar als derjenige, der diesen zur technischen Reife brachte. Auch Krittian treibt stets nach vorn. Vor allem aber, das ist neu für die Chefredaktion, gibt sie dem MDR etwa in ARD-Konferenzen eine hörbare Stimme.

In ihrer neuen Rolle beim MDR will Krittian den Schwerpunkt auf „Zukunftsthemen und den ostdeutschen Erfahrungsvorsprung bei Transformationsthemen“ legen. Dass sie selbst nicht aus dem Osten kommt und das Klischee erfüllt, als „Wessi“ den Ton anzugeben, ist so richtig wie in ihrem Fall unbedeutend: Krittian schafft den Spagat zwischen ur-ostdeutschen Themen und solchen von überregionaler oder bundesweiter Bedeutung – was sich nicht für jede MDR-Führungskraft behaupten lässt. Die Menschen in der Region glauben, sie vertrauen ihr.

Innerhalb der ARD heißt es, die Frau tue dem Verbund gut, weil sie nicht den für die Sender oft typischen Ego-Trip fahre, sondern immer das große Ganze im Blick habe. Sie setzt auf die Bündelung von Stärken, auf Kooperation. Und interpretiert ihren Auftrag überraschend: Mit „konstruktivem Journalismus“, der nicht die Apokalypse heraufbeschwört, sondern Ansätze für Lösungen aufzeigt, will Krittian den Menschen in diesen „Klumpenkrisen“ Orientierung geben. Mit dem Begriff bezeichnen Soziologen die Ballung vieler parallel laufender Krisen.

So hatte Krittian einen ihrer ersten „tagesthemen“-Kommentare seit langem Anfang August eingeleitet. Der MDR werde sich einem politisch-medialen Wettbewerb um Horrorszenarien verweigern, deutete sie darin an. Und dass sie kontroversen Debatten Räume und Orte geben wolle. Geht es nach Krittian, sollte sich Deutschland statt auf einen „Wut“- auf einen „Mut“-Winter einstellen. Kein neues „Wir schaffen das!“, sondern ein offener Blick auf die mit dem Wandel verbundenen Chancen. Permanente öffentliche Zweifel und Warnungen ermüden sie.

Und lähmen die Bürger, ist Krittian überzeugt. Weil die amtierende „Ampel“-Koalition diese zu einem Instrument ihrer politischen Kommunikation gemacht habe, müssten Journalisten „aus Chronistenpflicht“ mitgehen. „Aber umso mehr müssen wir einordnen und Alternativen aufzeigen.“ Dass Not und Elend, dass zu ängstigen oder mindestens zu verunsichern, für das Gros auch etablierter Medien ein wichtiger Teil des Geschäftsmodells ist, lässt Krittian außen vor. Mit Angst lassen sich Massen nicht nur führen, sondern sie verkauft eben auch trefflich.

Julia, die Fröhliche (so die Übersetzung ihres Namens aus dem Lateinischen) will auch nicht erkennen, dass ihre eigene Zunft mitunter Demokratie gefährdet und Gemeinschaften spaltet. Etwa indem die sich scheut, gerade bei grundsätzlichen Themen eine von der vermeintlichen, durch zufällige Umfragen gestützten Mehrheitsmeinung abweichende Haltung einzunehmen. Jedwede Anfeindung (gerade seitens der „Woke Community“) so gut es geht zu vermeiden, habe den Effekt, dass sich „die Filterblasenlogik des Netzes auf den Journalismus überträgt“.

Das jedenfalls beobachtet René Pfister, „Spiegel“-Korrespondent in Washington D.C. und mit dem etwas ehrlicheren, selbstkritischeren Blick von außen ausgestattet. Das Publikum erhalte letztlich den Eindruck, Berichterstattung und Kommentierung seien „merkwürdig uniform“. Es ist aber auch ein gerade in den vergangenen drei Jahren allseits zu beobachtender Rückfall in den französischen Positivismus des 19. Jahrhunderts, der die Menschen von den tradierten Medienangeboten weg treibt – hin zu alternativer (Social) Media. Darüber wäre zu sprechen.

Der Positivismus untersagte es, das Wissen weiter aus metaphysischen Spekulationen oder philosophischen Herleitungen zu schürfen. Allein die empirisch gewonnenen Fakten und ihre Relationen untereinander stellten Objekte einer sicheren Erkenntnis dar. Diese schon beinahe götzenhafte Überhöhung der Wissenschaft hinterließ ihre gravierendsten Spuren hierzulande während der Corona-Hochphase. Bis heute wird eine kritische Aufarbeitung samt breiter öffentlicher {und ergebnisoffener!) Debatte über das Für und Wider weitgehend unterdrückt.

Das gilt für alle, diese Gesellschaft nachhaltig verändernden Themen seit – rechnet man bis zur Bankenkrise zurück – mindestens 15 Jahren. Die Mega-Krisen jüngerer Zeit sind so auch ein Offenbarungseid der Medienzunft. Krittian ist das zu negativ. Sie zieht lieber die positiven Aspekte heraus, zeigt Handlungsmöglichkeiten auf. Auch sie kann nicht alles weglachen, aber sie hat das Talent, sich schnell wieder in eine konstruktive Grundstimmung zu versetzen. Das habe sie ihrem Vater zu verdanken, erinnert sie sich. Der übte mit den Kindern ein Ritual ein.

Am Frühstückstisch mussten sie auf Kommando anfangen, grundlos zu lachen. „Erst einmal war das irgendwie peinlich, aber es funktioniert, wenn man das häufiger ausprobiert hat“, bestätigt Krittian, „Ich mach das heute mit meinen Kindern auch noch. Am Ende lachen alle und fühlen sich fröhlich – das ist mir sehr wichtig!“. Genauso wie eine gute Atmosphäre beim MDR. Krittian beschreibt ihren Stil als „Führen durch Kontextkommunikation und auf Augenhöhe“. Alle sollen mitgenommen werden, alle „Wofür“ und „Wohin“ verstanden haben.

Ja, der Journalismus müsse dazu lernen. Und ja, er müsse „seinen Wert für die Gesellschaft heute noch einmal ganz anders darlegen“. Aber Krittian sieht in ihrer Arbeit nicht allein ein wahres Privileg („einer der schönsten Jobs“), sondern auch eine Art Daseinsfürsorge für die Menschen. Sie wirkt authentisch, wie sie das sagt, und man traut ihr zu, diesen Geist beim MDR einziehen zu lassen. Kann der Sender mit seiner Philosophie und Wandlungsfähigkeit am Ende die Blaupause für die gesamte ARD bilden? Krittian antwortet darauf nicht.

Und schiebt dann doch vielsagend nach, der MDR habe eine Alleinstellung, weil nur er mit Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt gleich drei Länder der ehemaligen „DDR“ vereine. Krittian: „Ja, wir wollen ,Stimme des Ostens’ sein, aber eben als Stimme der Zukunft, des Wandels und Osteuropas. Es tut der bundesweiten Wirklichkeit nach meiner Überzeugung gut, dass es da jemanden gibt, der das Ostdeutsche mit Stolz und Selbstbewusstsein vertritt. Diese spezielle Kompetenz müssen wir bundesweit noch vernehmbarer abbilden.“

Text. Bijan Peymani/dh