Lindenstraße räumt bei ARD Plus ab – ein Gastbeitrag

Das ist ein Überrschungserfolg. Die kommerzielle Streaming-Plattform bietet neuerdings für 4,99 Euro monatlich alle Folgen der längst eingestellten ARD-Serie Lindenstraße. Und – wie zu hören ist – mit erstaunlichem Erfolg. Seit 16. November wird also dort die die erste Lindenstraße-Staffel gezeigt, jeden Donnerstag gibt es eine weitere. Bis alle Folgen sukzessive abrufbar sind. Aus diesem Grund gibt es hier dazu einen Gastbeitrag des Lindenstraße-Fans Ibo Mazari (im Foto oben zu sehen mit seinen Lindenstraße-Autogrammkarten), der auch Psychologe ist:

„Als ich in der Blütezeit der VHS-Rekorder meine Reisen plante, kreisten meine Gedanken um eine zentrale Frage: Würde mein treuer Videorekorder zu Hause zuverlässig jede Folge der „Lindenstraße“ aufzeichnen? Gen Z, bitte googeln, was ein Videorekorder ist. Er war mein unverzichtbarer Begleiter, als Streamingdienste noch Science-Fiction waren. Keine der dramatischen Wendungen in Deutschlands erster Endlos-Soap durfte verpasst werden – eine Serie, die ironischerweise oft belächelt wurde, obwohl sie die Fernsehlandschaft revolutionierte.

Es war mehr als eine Fernsehserie, es war Zeitgeschichte, verpackt in den Alltag einer fiktiven Straße. Die „Lindenstraße“ – ein Phänomen, das mit 1758 Folgen fast 35 Jahre lang die deutsche Fernsehlandschaft prägte und sonntags um 18.40 Uhr fest im Terminkalender der Fans stand. Dabei war die Serie alles andere als seichte Unterhaltung. Sie war gesellschaftspolitisch progressiv, eine mutige Stimme in Zeiten des Wandels, die Themen wie Aids, Parkinson und Asyl in deutschen Wohnzimmern salonfähig machte.

Meine Jugend war geprägt von der Lindenstraße. Ein Höhepunkt? Der Tag der offenen Tür in Köln-Bocklemünd. Autogramme von Schauspielern zu bekommen, die man sonst nur auf dem Bildschirm sah, war ein einprägsames Erlebnis. Wir standen da, in einer Welt irgendwo zwischen Realität und Fiktion.

Die Art und Weise, wie wir die „Lindenstraße“ rezipierten, war einzigartig. Wir waren ironisch, postmodern und doch verzaubert von diesem Stück deutscher Fernsehkultur. Wir wetteten auf Cliffhanger und lauschten gespannt auf das charakteristische Fahrradklingeln, das oft eine neue Wendung ankündigte.

Die Serie war eine Abkehr von der amerikanischen Kulturindustrie, ein Fingerzeig auf die Eigenheiten und Eigenwilligkeiten des deutschen Alltags. Ihre verschachtelte Dramaturgie, ihre Cliffhanger und ihr Bezug zum Lebensrhythmus der Zuschauer machten sie in einer Zeit des aufkommenden Privatfernsehens zu einer festen Institution des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Im Vergleich zum sozialistischen Realismus war die „Lindenstraße“ ein Kaleidoskop des Lebens in der Bundesrepublik, ungeschönt, manchmal unbequem, aber immer wahrhaftig. Sie spiegelte gesellschaftliche Entwicklungen wider, griff aktuelle Themen sensibel auf und setzte Meilensteine wie den ersten gleichgeschlechtlichen Kuss im deutschen Fernsehen 1987 oder den Tod von Hans Beimer 2018.

Die „Lindenstraße“ war nicht nur eine Fernsehserie, sie war ein Spiegel der Gesellschaf. Und wenn ich heute, umgeben von modernster Technik, auf meinem Sofa sitze, denke ich manchmal wehmütig an jene Tage zurück, als ich meinen Videorekorder programmierte. Ironisch, nicht wahr?“

Über den Autoren: Ibrahim „Ibo“ Mazari gehört seit 2021 zum Team der Kölner Agentur Siccma Media. Der studierte Soziologe und Psychologe betreut als Teamlead Digital und Senior Consultant vor allem Kunden aus dem Bereich IT/Digitales und E-Commerce. Mazzari war acht Jahre PR-Leiter eines Softwareunternehmens und vorher PR-Chef eines führenden Online-Gaming und Esport-Anbieters. In seiner Freizeit bloggt Ibo über Gamification.