Bily wundert sich: über die unterschätzte Macht des digitalen Publishings

Zum Brückentag ein Brückenschlag für Gabor Steingart – und zwar von der alten Welt in die neue. In einem Interview bezeichnete der Ex-Chef des „Handelsblatts“ Werbung jüngst als „kommerziellen Zusatzstoff, der dem Journalismus schadet“. Er wünscht sich journalistische Angebote, die nicht von Werbeerlösen abhängig sind. Böse Erlöse sind also Schuld daran, dass der gemeine Journalist erst gar nicht mehr nach der Wahrheit recherchiert, weil er sie sich sowieso nicht schreiben traut.
 
Ja, Steingart hat Recht, wenn er damit etwa beklagt, dass in Jahresvereinbarungen mit Pharmakunden nicht nur haushohe Rabatte, sondern auch handfeste redaktionelle Erwähnungen garantiert werden und – implizit – Kritik an reinen Marketing-Salben ausgeschlossen wird. Und er hat auch Recht, wenn er damit beklagt, dass im Kampf um Quote und Auflage jede Wetterkapriole zur Dürre oder Flut aufgeblasen wird. Nur um ein paar mehr User auf die Seite zu locken, die dann zu Ramsch-Preisen monetarisiert werden. Aber Steingarts Perspektive steht für altes Denken aus einer alten Welt, die sich in einer flotten Abwärtsspirale befindet: weniger Erlöse, mehr Kostendruck, weniger Geld für guten Journalismus, weniger Leser, weniger Erlöse…
 
Wie man diese Abwärtsspirale durchbrechen kann und worin die Chancen einer journalistischen Zukunft liegen  weiß, einmal mehr, Herr Döpfner. Er stuft das Rezo-Video doch glatt als „gutes Beispiel für digitalen politischen Journalismus“ ein. Wenn die eigentlichen Journalisten kritischen Qualitätsjournalismus nicht mehr pflegen wollen, dann übernehmen das halt andere. Vielleicht mit anderem Auftreten und neuen Mitteln, aber in der Sache auf jeden Fall mutiger und – journalistischer.
 
Das alte System, in dem ein paar wenige Journalisten entschieden, was wie an das Volk kommuniziert wird, ist Vergangenheit. Heute erzielen einzelne Videos und Posts mehr Reichweite als alle Tageszeitungen zusammen. Aber halt: das liegt nicht nur am Kanal. Das liegt vor allem daran, dass diese neuen Meinungsbildner keine Rücksicht nehmen auf Jahresvereinbarungen, Stillschweige-Abkommen und Nichtangriffspakte. Zerstörung der CDU, Sturz der Österreichischen Regierung, Rettung der Bienen oder Tampon-Besteuerung – das sind nur ein paar Erlebnisse, die wir der neuen digitalen Macht des Journalismus verdanken. Diese Erfahrungen werden wie in Zukunft immer öfter machen. Es gibt noch genügend Straches, Infantinos, Scharlatan-Salben oder Abgassünden aufzudecken. 
 
Vielleicht wird der Journalismus dann wieder zur 4. Gewalt. Um in Anlehnung an Herrn Steingarts Worte zu sprechen:  „Ich kenne keine Leserin und keinen Leser, die sich weichgespülte Hofberichterstattung oder suggestive Cliffhanger wünschen. Das sind journalistische Ersatzstoffe, die dem wahren Journalismus schaden.“
 
Thomas Bily, der Mitgründer der Social Media-Plattform Wize.Life, hat für Clap Online wieder in die Tasten gegriffen. Als ehemaliger Manager in der deutschen Printmedienlandschaft (Burda, Gruner + Jahr) robbt er sich durch den digitalen Wandel und stolpert manchmal über Seltsamkeiten in seiner alten und neuen Branche. Wenn Sie ihn erreichen wollen: t.bily@wize.life