Loeb: „Die Lindenstraße vermittelt Meinungsbildung als Fernsehunterhaltung“

Es ist mittlerweile schon etwas her, dass die einstige ARD-Dauerläufer-Serie Lindenstraße eingestellt worden ist. Ein „unwürdiger Untergang„, schrieb vor rund drei Jahren Teleschau-Mann Frank Rauscher. Die Kulissen entfernte der WDR zügig auf seinem Studio-Gelände, Abriss-Bagger waren schnell zur Stelle.

Aber so ganz vorbei ist es mit der „Lindenstraße“ nicht. Ein erfolgreiches Revivial mit den Folgen gibt es seit November bei ARD Plus. Der kostenpflichtige Streamingdienst agiert seit 2022 eigenständig und operiert mit einer eigenen App. Warum die Lindenstraße auf seiner Plattform funktioniert, erklärt ARD-Plus-Geschäftsführer Michael Loeb (oben im Foto) in einem Gastbeitrag für Clap.

„Die deutsche Fernsehserie „Lindenstraße“ ist nicht nur ein Stück TV-Geschichte, sondern auch ein kulturelles Phänomen, das immer wieder kontroverse Themen in die Wohnzimmer der Zuschauer brachte. Hier einige Stichpunkte, die zeigen, wie die Serie die gesellschaftliche Entwicklung aufnahm und zum Diskurs und vor allem zur Meinungsbildung beitrug. Dies führte zu teilweise heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit und in den Medien.

 

  1. Aids-Thematik als Reaktion auf Forderungen der CSU: Mit dem Slogan „Benno hat Aids“ erregte die Serie Ende der 1980er Jahre große Aufmerksamkeit. Sie brachte das Thema HIV und Aids in einer Zeit, in der die Krankheit noch stark stigmatisiert war, in die öffentliche Diskussion und trug zu seiner Enttabuisierung bei. Heute ist der Umgang mit HIV wesentlich rationaler und unverkrampfter.

 

  1. Darstellung von Behinderung: Durch Charaktere wie Christoph Bogner, der an spastischer Lähmung litt, und Martin Ziegler-Beimer, der mit dem Down-Syndrom geboren wurde, schuf die Serie Bewusstsein und Empathie für Menschen mit Behinderungen. Hier würde man sich wünschen, dass Menschen mit Behinderungen heute mehr in den Medien präsent wären.

 

  1. Methadon und Drogenkonsum: Als die Serie Drogenkonsum und Methadonbehandlung thematisierte, löste sie Skandale und hitzige Debatten aus, die die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Themen widerspiegelten. Heute ist die Stigmatisierung von Drogenabhängigen nicht mehr so stark, aber könnten diese Themen häufiger aufgegriffen werden, da das Problem nach wie vor besteht.

 

  1. Cannabis-Legalisierung: Auch hier war die „Lindenstraße“ Vorreiter, indem sie die Diskussion um die Legalisierung von Cannabis in den Mittelpunkt rückte. Im Rückblick überrascht die Heftigkeit der Reaktionen damals, denn mittlerweile gibt es sogar eine Legalisierungsinitiative der Bundesregierung.

 

  1. Erster schwuler Kuss im deutschen Fernsehen: Dieser Moment war revolutionär und ein Meilenstein in der Darstellung von LGBTQ+ Charakteren im Fernsehen. Die Situation von LGBTQ sind heute nicht mehr mit den 80er Jahren zu vergleichen, heute gibt es zum Glück keinen Aufschrei mehr.

 

  1. Alzheimer: Die Serie thematisierte die Alzheimer-Krankheit durch die Figur Hubert Koch und trug dazu bei, das Bewusstsein für die Krankheit und ihre Auswirkungen auf Betroffene und Angehörige zu schärfen. Auch wenn es immer wieder Filme und Reportagen über Alzheimer gibt, ist das Thema gesellschaftlich und medial immer noch unterrepräsentiert.

 

  1. Gastauftritte von Politikern: Die Auftritte realer Politiker in der Serie sorgten für eine Verbindung zwischen Fiktion und realer politischer Landschaft. Dennoch sah sich die Lindenstraße zur Neutralität gezwungen. Heute sind Politiker in TV-Shows und mit Homestorys in Boulevardzeitungen Normalität.

 

  1. Neonazis in der Familie Beimer: Dieser Handlungsstrang spiegelte die reale Sorge der deutschen Gesellschaft in den 90er Jahren vor Rechtsextremismus wider. Heute ist die Angst vor einem Rechtsruck der Gesellschaft präsenter denn je.

 

Die „Lindenstraße“ war mehr als eine Fernsehserie. Sie war ein kulturelles Barometer, das zeigte, wie es um die Akzeptanz und das Verständnis der deutschen Gesellschaft für verschiedene gesellschaftliche Themen und Herausforderungen bestellt war. Sie war Vorreiter in der Thematisierung von Tabus und trug wesentlich dazu bei, dass sich die deutsche Gesellschaft mit diesen Themen auseinandersetzte. Sie ist damit ein exemplarisches Beispiel dafür wie Fernsehunterhaltung Meinungsbildung im besten Sinne vermitteln kann.“

Autor: Michael Loeb, Geschäftsführer von ARD Plus

Foto: WDR Mediagroup