Bily wundert sich: über die entpolitisierte Gesellschaft

Parteipolitisch bin ich wie ein Fußballfan ohne Lieblingsmannschaft: Ich freue mich einfach über gute Politik und Staatsführung. Besser gesagt: ich würde mich freuen. Weil seit 12 Monaten beschäftigen sich Politiker aller Parteien nur noch mit Corona. Schon Mitte letzten Jahres hatte ich befürchtet, dass allen voran MP Söder den Virus bis zur Bundestagswahl 2021 ausschlachten würde. Gedanken außerhalb der Corona-Schneise finden kaum mehr Gehör. Wir zittern uns von der morgendlichen Inzidenzmeldung bis zur abendlichen Talkshow – immer mit einem leichten Schaudern unter der Maske. 

Würde jemand in diesen Zeiten soziale Fragen auftischen, wäre das so, als ob man um 3 Uhr morgens in der Spelunke einen Smoothie bestellte. Die Gäste reagieren mit Kopfschütteln und Lokalrunden. Corona überstrahlt alles. Und zu diesem Thema gibt es genau zwei Optionen: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Es gibt keinen Dritten Weg.“ Entweder wir folgen brav wie Schafe der politischen Führung in den Lockdown. Oder wir stigmatisieren uns automatisch als Verschwörungstheortiker. Ich gebe zu, dass ich selber zum Schaf geworden bin. Wenn Pastor Söder in klerikal angehauchter Tonlage wieder einen seiner Blut, Schweiß und Viren Appelle loslässt, gerate ich in tranceartige Hörigkeit. 

Ich verachte mich dafür und denke an Benjamin Franklins Worte: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“

Für die bevorstehenden Wahlkämpfen erwarte ich ein Werben um die großen, alten Herden des Landes. Diese BestAger sind mehrheitlich interessiert an Sicherheit und geprägt durch Besitzstanddenken. Innovation, Veränderung, Experimente sind nicht unser Ding (ich bin 55). Digitale Gesundheitsakte, Bildungsreform? Bitte erst, wenn wir nicht mehr Bayern 1 hören und Harley fahren können.

Die Alten des Landes hat Tagesthemen-Chef Helge Fuhst im Visier, wenn er meint,  „die Sehnsucht nach liberalen und konservativen Identifikationsfiguren ist groß“. Freigeister der 80er Jahre sitzen in zerrissenen Jeans im Reihenhaus der Vorstadt vor dem Fernseher und draußen wütet das Virus. Stephen King loves it.

In so einer gruselig entpolitisierten Landschaft scheint es nur konsequent, dass der „Stern“ wohl sein Politikressort auflösen möchte. Und dass die RTL Mediengruppe sich scheinbar Gruner+Jahr einverleiben will. Langjährige Begleiter sprechen davon, dass hier noch einige überraschende Nachrichten kommen werden. So könnte der kaufmännische Part wohl in Köln angesiedelt werden, so wie es die Vermarktung bei der AdAlliance vorgemacht hat. Und der Vertrieb? Wird wohl bei Bauer unterkommen.

Unternehmerisch richtige Entscheidungen. In Sachen Meinungsvielfalt ein herber Verlust. Diese Entwicklung hatte vor langem begonnen. Dringlicher ist die Frage, wie Medienlandschaft und Meinungsbildung sich neu formieren und funktionieren. Politiker, die das als erste erkennen und nutzen, können unser Land verändern.

Digitalstratege und Ex-Verlagsfachmann Thomas Bily schreibt regelmäßig für Clap. Mehr über ihn erfahren Sie auf seiner Webseite digital-age.marketing