Gaming-Spezialist Mirzaee: „Microsoft und Sony führen den Krieg der Giganten“

Das Thema Gaming ist derzeit in aller Munde. In der letzten Woche kündigte Microsoft die Übernahme von Activision Blizzard an. Microsoft soll offensichtlich auch zu einer Art „Netflix für Spiele“ werden. Und Mitte der Woche kündigte sich die Übernahme von ESL Gaming durch einen arabischen Staatsfonds für über eine Milliarde Dollar an. Zum Thema der Stunde bat Clap einen der Vorreiter im deutschen Gamingmarkt zum Interview. Amir Mirzaee ist Managing Director beim Berliner Startup-Unternehmen Bayes eSports.

Hatten Sie mit Übernahmen in dieser Größenordnung gerechnet?

Mirzaee: Der Gaming-Markt, und als Teil davon der Esports-Markt, brennt. Das ist hoffentlich mittlerweile kein Geheimnis mehr. Gaming ist schon lange im Mainstream angekommen. Milliarden von Menschen spielen – in Stadien, zuhause oder irgendwo in einem Dorf im Himalaya. Entsprechend bewegen wir uns im Gaming nur noch in Milliarden Euro und US Dollar-Sphären. Gaming ist das neue Hollywood. Und mehr noch als das. Im Kern dieses Marktes führen Sony und Microsoft den Krieg der Giganten. Um sie herum treiben sie die Frage, welcher Game Publisher für welche Plattform produzieren darf, PlayStation oder Xbox. Dazu dann die “Netflix” Frage, über welche unterliegende Streaming Plattform bezogen wird.

Ich habe die Transaktion nicht vorausgesehen, aber sie ist für mich sehr stimmig. Microsoft hat hier langfristig und mit einem Schlag einen Haufen strategischen AAA-Gaming-Content (Videospiele mit höchstem Entwicklungsbudget) vom Markt genommen. Und es funktioniert. Mein erster Gedanke war, ob ich zu meiner PS5 bald noch eine Xbox brauche.

Wirtschaftlich war dieser Deal sicherlich auch nicht unstimmig. Activision Blizzard war bei 8,1 Milliarden Dollar Umsatz in 2020 bei knapp 2,7 Milliarden Dollar Nettogewinn. Der Markt wächst exponentiell und Gaming-Business-Modelle sind schon lange von “one time” zu “recurring” gewechselt. Game Publisher müssen heute keine physischen Datenträger mehr verkaufen, um ihr Geld zu machen. Sie müssen nicht einmal mehr Geld fürs das eigentliche Spiel verlangen, wie Riot Games zeigt. Das Geld kann Microsoft in weniger als zehn Jahren wieder drin haben. Im Esports, als dem professionellen Teil von Gaming, sieht es mittlerweile nicht anders aus. Das zeigt die Übernahme unseres Partners ESL für über eine Milliarde Dollar mehr als deutlich. Wen diese Größenordnungen überraschen, der verschläft etwas. Das ist ganz klar.

Liegt es vorrangig an der Pandemie, dass das Thema Games derzeit so weit vorne liegt? Oder warum gibt es gerade so viele Gamer, die bereit sind Geld für Avatare, Hardware oder InApp-Käufe Dinge auszugeben?

Mirzaee: Die Pandemie war zwar ein Katalysator im Sinne von globaler Aufmerksamkeit auf das Thema, aber nicht die Ursache für Popularität. Der beste Beweis dafür ist unser Exklusiv-Partner Riot Games, für den wir als Berliner Unternehmen weltweit und exklusiv die Kommerzialisierung der Spieldaten tätigen. Als Riot vor 16 Jahren mit League of Legends das erste Mainstream, Free-to-Play-Game auf den Markt brachte, hat die Industrie denen einen Vogel gezeigt. Riot hat seit jeher die Position vertreten, dass für ein Spiel zu zahlen nur den Zugang hemmt, und dass bessere Leistung im Spiel nicht für Geld kaufbar sein sollte. Damals wurden sie für verrückt erklärt, heute machen sie 1,5 Milliarden Eeuro Jahresumsatz und haben das Geschäftsmodell für die nächste Generation von Gaming grundsätzlich mitgestaltet. Nicht gleich, aber ähnlich verhält es sich ja mit vielen Top-Titeln heutzutage, von Fortnite, über PUBG mobile bis hin zu Candy Crush.

Schauen wir uns als zweites Beispiel Valve mit ihrem Titel Counter-Strike an. Ein Free-to-Play Titel, bei dem um 2016 ein riesiges Problem um nicht-sanktioniertes Skin Betting eskalierte, also das Wetten um seltene, rein visuelle Item Designs im Spiel. Valve musste einschreiten und hat über Nacht einen milliardenschweren Schwarzmarkt dicht gemacht.

Das Konzept der ‚Paid virtual items‘ und In App-Käufe ist mittlerweile etabliert. Sicherlich wandern Freizeitausgaben vermehrt auch ins Gaming, wenn das Leben anderweitig Covidbedingt eingeschränkt ist, aber die Basis dafür besteht schon sehr lange, und zwar auf sehr hoch entwickeltem Niveau.

Nun hat der E-Games-Bereich, in dem sie tätig sind, mittlerweile erstaunliche Dimensionen erreicht, was etwa Preisgelder, Zuschauer oder Sponsoringverträge betrifft. Bayes eSports stellt dafür für Medienkunden, Wettunternehmen oder Esports-Organisatoren beispielsweise Datenanalysen, Wahrscheinlichkeiten und Visualisierungen zur Verfügung. Warum sind diese Daten für den Esports-Bereich so wichtig?

Mirzaee: Hier sind zweierlei Aspekte interessant. Zum einen gibt es für keinen traditionellen Sport so viele Datenpunkte und eine so hohe Sicherheit in den Daten, wie in Esports Titeln. Während im traditionellen Sport künstlich abgeleitet und gemessen wird, ist im Esports alles digital. Wir können beispielsweise im Titel Counter-Strike nicht nur jede einzelne Kugel in ihrem Verlauf verfolgen, wir können die Szene auch beliebig in der Ansicht darstellen. Dadurch bieten sich natürlich sehr viel mehr Möglichkeiten für jegliche Form von digitaler Applikation als im traditionellen Sport.

Zum Anderen haben Esports-Fans eine Tendenz dazu, ihre Titel über Statistiken im Detail verstehen zu wollen. Es gibt eine unendliche Vielfalt an Fan und Community-Webseiten, die statistisch unzählige Kombinationen abbilden – beipsilsweise wie sich Teams und Spielcharakter-Kompositionen, die Wahl der Ausrüstung oder das Muster des Spielverlaufs auf Gewinnchancen auswirken. Das ist einzigartig im Esports. Im Fussball ändert sich nicht viel, wenn Bayern statt weißer rote Trikots anzieht. Oder etwa doch? Interessante Frage 😉 Bei League of Legends aber sammelt man über 30 bis 45 Minuten sein Inventar aus über 175 Gegenständen zusammen, abhängig davon wieviel Gold man zur Verfügung hat. Und diese Entscheidungen muss jeder Spieler bei jedem Match neu treffen.

Den Spielausgang vorauszusagen auf Basis solcher Statistiken, ist der Kern der Dienstleistungen von Bayes Esports. Wir liefern die Daten, und interpretieren sie für unsere Kunden weltweit und exklusiv für unsere Inhalte.

Welche Rolle will ihr Berliner Startup-Unternehmen im Gesamtkonzept künftig einnehmen? Bleiben Sie bei dem angestammten Datenbereich oder gibt es darüber hinaus noch weitere Ideen?

Mirzaee: In unseren internen Strategie-Workshops sind wir an einen interessanten Punkt geraten. Und zwar haben wir irgendwann gemerkt, dass Google es damals mit dem Mission-Statement gut getroffen hat: ‚To organize the world’s information and make it universally accessible and useful‘. Das hätten wir Eins zu Eins so übernehmen können für Esports.

Stattdessen heißt unsere Mission ‚To be the #1 data partner to the esports industry‘ und so halten wir es auch. Wir sind und wollen die erste Wahl für Rechteinhaber sein, ihre Daten strukturieren und der Community sowie dem Ökosystem zugänglich machen. Für unsere Kunden auf der anderen Seite wollen wir der Enabler für die nächste Generation von digitalen Nutzungserlebnissen sein. Alles aus einer Hand und so simpel wie möglich zu integrieren. Wir sind sehr glücklich mit unserer Position, kratzen aber im wirtschaftlichen Potenzial selbst als Marktführer noch an der Oberfläche.

Sie hatten zu ihrem Amtsantritt gesagt, dass sie das Wachstum von Bayes eSports weiter stärken wollen, in dem sie sich für ein einheitlicheres Spiele-Ökosystem einsetzen. Sind Ihnen in dieser Hinsicht bereits Fortschritte gelungen?

Der Fortschritt ist zu Beginn immer getrieben durch wenige, herausragende Partnerschaften und Kundenbeziehungen. Auf der einen Seite die Game-Publisher, die sich dem Thema offizielles Datenangebot nähern und denen wir mit einem standardisierten Datenangebot helfen, an den Markt zu kommen. Zum anderen Kunden, die uns antreiben, Integrationen einfacher zu machen und Datenmodell Titel-agnostisch zu bauen, damit sie für verschiedene Titel nur eine Schnittstelle integrieren müssen. Das mag sich selbstverständlich anhören, aber wir sind hier noch im Wilden Westen, wie ich zu sagen pflege. Riot Games unter den Game Publishern ist immer noch der einzige Sheriff in Town, wobei andere bald folgen werden. Das ist allerdings noch geheim.

Und dann darf man natürlich nicht die ESL vergessen, als führender unabhängiger Esports League Operator frisch vermählt mit dem Esports Event Infrastruktur Primus FACEIT. Wenn man uns drei in einen Topf wirft, also auf unserer bestehenden Partnerschaft aufbaut, dann hat man eine weltweit skalierende Esports Plattform mit standardisierter Datenschnittstelle, ready to go, plug and play. Eine unendlich spannende Vision, wenn auch Events endlich einheitlich ausgetragen und angeboten werden, und die Daten mit einem Schlag in allen möglichen digitalen Applikation zu finden sind.

Herr Mirzaee, Sie sind seit 2020 bei dem Berliner Unternehmen. Davor waren sie etliche Jahre beim Suchmaschinenriesen Google. Welches Know-how konnten Sie von dort mitbringen?

Mirzaee: Das ist mit Sicherheit die Fähigkeit, digitale Plattformen kommerziell und weltweit zu skalieren. Das heißt auf der einen Seite, mit einem überschaubaren Team Prozesse und Beziehungen mit Partnern und Kunden zu vereinfachen und dabei gleichzeitig effektiver zu machen. Zum Anderen heißt das nationale und regionale Unterschiede zu navigieren, Lizenzbestimmungen zu verstehen und das Angebot entsprechend auszurichten.

Man diskreditiert bei den großen Tech-Firmen der Welt oft, wie schwierig der Job ist, ein Problem weltweit zu lösen, zum Beispiel mit Google Maps Menschen zu helfen zu navigieren, und dann gleichzeitig national unterschiedliche Vorgaben in der Nutzung des Kartenmaterials zu beachten. Zu meiner Zeit bei Waze innerhalb von Google beispielsweise hatte der türkische Staat ein Monopol auf Kartierung. Da gab es Zeiten, wo unser CEO bei Einreise hätte verhaftet werden können. In China läuft aktuell eine Staatskampagne gegen Gaming und dort dürfen Kinder jetzt aktuell nur drei Stunden die Woche Videospiele spielen, kontrolliert über eine Social ID. Sagen wir mal so, es gibt Reiseziele, die aktuell für mich und meinen Co-Geschäftsführer Martin Dachselt  attraktiver sind.

Mirzaee im Office mit seinem Geschäftsführer Martin Dachselt.

Was unterscheidet eigentlich Google signifikant von einem deutschen IT-Unternehmen? Sie loben das Unternehmen ja immer in den höchsten Tönen…

Wenn wir große Tech Unternehmen vergleichen, dann ist die vereinfachte Antwort “Unternehmenskultur”. Es geht nicht darum, dass wir alle jeden Tag auf bunten Fahrrädern von einer Massage zum nächsten Smoothie radeln, sondern darum wie der Mensch gesehen wird. In deutschen Unternehmen ist der Mensch eine Ressource, hat eine Aufgabe und soll diese gefälligst nach Schema F erledigen. Ein amerikanisches Tech-Unternehmen, und ich spreche jetzt vom gehobenen Durchschnitt, sieht einen Menschen. Ein Mensch hat Bedürfnisse, Ziele und Träume. Die Firma ist ein Ort, wo die Ziele der Firma mit dem Ziel des Individuums vermählt werden. Der Person wird ein Freiraum und eine Eigenverantwortung zugesprochen, sowie ein Pfad nach vorne, aufwärts. Das motiviert, engagiert und macht kreativ. Unser imaginärer Freund Peter will nämlich nicht Alles nur für das Wohl der Firma geben, sondern will selbst auch etwas davon haben. Ein einfacher Gedanke eigentlich.

Wenn wir aber Startups miteinander vergleichen, dann schöpfen amerikanische Startups von einem sehr viel entwickelten Ökosystem, wo Forschungseinrichtungen, Kapitalgeber und Corporates eng verzahnt sind. Da wird in eine Richtung gezogen, da werden Türen geöffnet, da wird die Wirtschaft von morgen geschaffen. Sind wir uns alle bewusst, dass Kaliforniens BIP im Ranking der Staaten weltweit unter den Top 10 ist? Das kommt nicht nur vom Verkauf von Orangen und Avocados, soviel ist klar. Auch wenn sie da super sind. Und Computer haben wir doch auch.

Ich gebe hierzu ein Beispiel. Eigentlich eine tragische Realität, dessen sich kaum jemand bewusst ist. Berlin speziell, und Deutschland im Weiteren, sind eins der Esports Epizentren der Welt. Wir haben in Köln die ESL, weltweit größter unabhängiger Esports Event Produzent der Welt. Wir haben in Berlin Bitkraft, den weltweit größten Esports-only Risikokapitalgeber der Welt. Wir haben hier mit Riot Games das Europazentrum des weltweit führenden Esports Game Publishers der Welt, wir haben weltweit führende Esports Teams mit G2 und Co, und wir haben mit uns sowie unserer Konkurrenz die beiden führenden Anbieter von Esports Daten für Kunden weltweit in Berlin. Hier werden Firmen von Milliardenwert gebaut, die weltweit dominieren und ein Ökosystem bedienen, dass mit über 600M Zuschauern fast 10% der Weltbevölkerung begeistert.

Dieses Wachstum ist maßgeblich getrieben von einem Mann, einem Unternehmer, Jens Hilgers. Jens hat sein Leben dem Esports verschrieben und den Standort auf internationales Level gehoben. Und genau hier in Deutschland, home of esports entrepreneurship, ist Esports kein staatlich anerkannter Sport. Für das eingestaubte Establishment sind wir die,  “die irgendwas amüsantes mit Videospielen machen”. Fragen Sie doch mal Jens nach seinen Erfahrungen in den letzten 20 Jahren. Es wäre wirklich amüsant, wenn es nicht so traurig wäre. Wo wären wir, wenn wir Unterstützung bekämen? Das ist die goldene Frage.

Sie haben weit über den eGames-Sektor hinaus viele Kontakte zu Technologieunternehmen, weil sie bereits so viele Jahre in dem Bereich tätig sind. Welche Partnerschaften könnten Sie sich eigentlich im Medienbereich oder in der Kommunikationsbranche vorstellen? Bis auf Sport.1, die vor Jahren einen eSports-Sender gegründet haben, scheinen ja viele wichtige Player noch recht zurückhaltend zu sein, was das eSports-Thema angeht. Oder täuscht dieser Eindruck?

Esports als Sport anzuerkennen wäre ein wichtiger Start. Im Rahmen dessen könnten offizielle Wettangebote gestartet werden, so dass Deutsche Fans nicht auf internationalen Plattformen ihrem Hobby nachgehen müssen. Bwin ist ein Kunde von uns über die Entain Gruppe. Bwin darf unsere Daten nicht in Deutschland anbieten, aber in anderen Ländern schon. Absurd.

Darüber hinaus haben die Themen viewing experience und fan communities in Deutschland noch viel Potenzial. Es stehen Daten zur Verfügung, die für spannende fan communities genutzt werden können. Aber niemand investiert, niemand geht substanziell in Vorleistung mit dem Ziel, ein Konzept zu erschaffen, das global skaliert. Die Zutaten sind alle da, der Weitblick fehlt. Das ist deshalb tragisch, weil uns international der Rang abgelaufen wird.

Esports ist der einzige Sport der Welt, der in der Zuschauerzahl exponentiell steigt. Schon jetzt liegt das Interesse der Deutschen an Esports bei 10 Prozent. Nur werden sie in Zukunft kein deutsches Medienangebot konsumieren, weil die internationalen Plattformen dann schon viel weiter sind.

Derzeit gibt es eine erstaunlich scharfe Korrektur am Aktienmarkt. Bei Technologieaktien, aber insbesondere auch im Games-Bereich. Waren die Bewertungen in der jüngeren Vergangenheit etwas zu sportlich?

Mirzaee: Ich muss sagen, ich war vor einigen Monaten noch genau der Meinung. Aber aktuell ist erschreckend, was an den Märkten passiert. Sportradar und Genius Sports, die Branchen primi in der Kommerzialisierung von traditionellen Sportdaten, sind 2021 beide an die Börse gegangen. Die beiden teilen den Markt in absehbarer Zeit unter sich auf und da wird es niemand anderen geben. Safe bets könnte man sagen. Doch beide haben in den letzten Wochen über 50 % im Kurs verloren und scheinen kaum aus dem Keller zu kommen. Dann schaut man sich den NASDAQ an und der hat seit 2008 nicht mehr so schnell verloren wie aktuell. Das macht schon Sorge, dass da ein größeres Übel droht.

Interview: dh

Fotos: Bayes eSports