„Rund 1,2 Millionen weniger – und dies nur allein im ersten Halbjahr…“. Dieser Satz könnte angesichts der aktuellen, weltweiten Krisensituation so ziemlich auf jede Branche zutreffen. Je nachdem welches Unternehmen man sich anschaut, gewinnen diese Worte ein unterschiedliches Maß an Dramatik. Auch wenn die Welt sich derzeit mit massiven, unbestreitbar ernsthaften Herausforderungen konfrontiert sieht, ist der Verlust von 1,2 Millionen Abonnenten für Netflix verständlicherweise eine mehr als unangenehme Kröte, die es in der dortigen Chefetage erst einmal zu schlucken gilt. Ganz abgesehen von all den Mitarbeitenden, die nun unter dem Druck stehen, abtrünnige Zuschauer zurückzuerobern und die noch Verbliebenen zum Bleiben zu überzeugen.
Welchen Weg wird das „rote N“ künftig also einschlagen? Viele Jahre unangefochten als Platzhirsch der größte Player auf dem Markt, sorgte der Erfolg des Streaming-Dienstes nicht nur für Bewunderung, sondern vor allem für die Motivation der führenden Medien- und Unterhaltungskonzerne selbst in das Geschäft einzusteigen. Das Ergebnis kennen wir alle. Die Konkurrenz ist mittlerweile groß und mächtig. Ein Nachkömmling wie Disney+ dominiert mit seinem schier unendlichen Angebot aus dem Star Wars- oder Marvel-Universum und kann sich der Treue seiner Fans, die nach neuem Content ihrer Helden gieren, sicher sein. Andere Dienste können auf ihr über viele Jahrzehnte gewachsenes Serien- und Film-Angebot vertrauen, die sie zwar bislang an externe Medienhäuser zum Streaming ausgeliehen haben, nun die Rechte aber nach und nach zurückziehen, um dieses Portfolio exklusiv auf den eigenen Portalen auszustrahlen.
Was auf dem Streaming-Markt geschieht, ist kein neues Phänomen. Unzählige, einst gefragte Innovationen wurden von ihrem eigenen Trend überholt oder schlussendlich ganz von Markt gedrängt. Nur die älteren Nutzer*innen erinnern sich heute noch an ihre damals angesagten Handys von Motorola, Siemens oder Nokia. Nicht zu vergessen Blackberry, mit der die Emails im wahrsten Sinne laufen lernten. Während mit und dank dieser Unternehmen der Weg vom starren Telefon mit Wählscheibe bis zum heutigen multifunktionalen Smartphone geebnet wurde, sitzen wir aber immer noch vor unserer, zugegeben größer und vor allem flacher werdenden, Glotze und lassen uns von spannenden Inhalten faszinieren. Treu und unermüdlich. Für die folgende Prognose muss ich mich daher gar nicht weit aus dem Fenster lehnen: An dieser Gepflogenheit wird sich auch in den nächsten Jahren und mit den kommenden Generationen nicht viel ändern. Ob heute oder morgen, wir wollen Bewegtbildunterhaltung konsumieren. Nur über die Frage „bei wem?“ lässt sich diskutieren.
Der enorme Zuschauer-Verlust von Netflix muss allen Rivalen, Konkurrenten und Mitbestreitern auf dem Markt eine Warnung sein. Eine technisch intelligente Plattform zu bauen ist mit den heutigen Mitteln kein Hexenwerk. Eine Marktzugehörigkeit verbunden mit einer attraktiven Mediathek aufzubauen, benötigt Zeit. Zudem Ausdauer und den Willen, sich in schwierigen Zeiten nicht kampflos vom Markt drängen zu lassen. Wesentlicher Knackpunkt werden die Kosten bleiben, die von den Konsumierenden gefordert werden. Oder langfristig überhaupt noch tragbar sind.
Ein Problem, dass sich angesichts der derzeitigen steigenden Lebenshaltungskosten auch auf dem deutschen TV- und Streaming-Markt bemerkbar machen wird. Für wen und für was sind wir bereit zu zahlen? Ich würde mir wünschen, dass dieses Problem, bei allem Respekt für die für viele Menschen besorgniserregende Situation, für die hiesigen Anbieter der vielleicht so nötige Tritt in den Allerwertesten sein mag. Ein Augenöffner, der allzu verwöhnte Sinne wieder für das Wesentliche schärft. Denn obwohl selbst die angestammten TV-Sender von veränderten On-Demand-Sehgewohnheiten profitieren, ihre Archive über ihre Mediatheken in Szene setzen und so ihre Konsumenten am vertrauten Bildschirm halten, mussten sie sich bislang nicht ernsthaft mit sinkenden Zuschauerzahlen beschäftigen. Doch nun steht die langfristige, finanzielle Belastbarkeit der Gebührenzahlenden zur Debatte. So sind nicht mehr nur die privaten Medienunternehmen gefordert, sich mit dem Zahlungswillen, alternativen Finanzierungsmodellen und dem Qualitätsanspruch ihrer Zielgruppe wahrhaftig auseinanderzusetzen.
Ein jedes Kopf an Kopf Rennen hat am Ende nur einen Sieger und wer heute die Nase vorne hat, mag im kommenden Jahr in der hinteren Reihe stehen. Doch Krisen sind immer eine Chance. Die Kunst ist bekanntlich, diese richtig zu nutzen. Die deutsche TV-Branche mag diesen Weckruf des scheinbar allzu übermächtigen Pioniers Netflix hoffentlich nicht überhören und sich ihren Zuschauenden im international umkämpften Markt sehenden Auges zuwenden. Kasse machen ist das eine, unentbehrlich zu sein und bleiben, das andere.
Stefan Hoff war bis vor kurzem Geschäftsführer des technischen Dienstleisters EMG Germany und ist Vorstandsvorsitzender des TV-Verbands VTFF. Jetzt hat er wieder mehr Zeit, um für Clap regelmäßig zu schreiben.
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