Bily wundert sich: über die Krise des Investigativen

Manche Themen werden Tag für Tag als Nachricht serviert, weil wir uns gerne daran aufreiben – wie Habeck und der Atomausstieg. Andere Themen werden sehr dezent aufbereitet, als würden wir uns dafür schämen müssen – wie Woelki und die Kirche. Wieder andere werden weggesperrt, als wären sie Gift für unser Denken – wie Selenskyi und die Korruption. Und dann gibt es noch die, die bei passendem Anlass aufgekocht werden – wie Infantino und One Love. Die Nachrichten werden schön garniert, gut gewürzt (nicht selten zu scharf) und lauthals von der Küche in den Saal gescheppert: „Einmal Habeck mit Woelki an Tisch 1 bei Lanz!“ Das Publikum staunt und schluckt. 

Die Frage, warum was in welcher Form serviert wird und welche Zutaten aus welchen Quellen von welchem Koch nach welchem Rezept dafür verwendet werden, bleibt meist unbeantwortet. Diesem investigativen Part widmen sehr viele Medien immer weniger Mühe und Ressourcen. Obwohl gerade das ein herausragendes Qualitätsmerkmal sein könnte, um sich vom traurigen Rest der Nachrichtenschleudern abzusetzen. 

Die meisten Anstalten senden, was das Zeug hält oder was die Chefs de Cuisine am liebsten haben. Zwar hat die Unternehmensberatung Deloitte den NDR kürzlich frei geprüft vom Verdacht eines politischen Filters. Aber es bleibt ein Beigeschmack ungesunder Glaubwürdigkeit, wenn eine Unternehmensberatung einer der renommiertesten TV-Anstalten des Landes so etwas wie Unabhängigkeit attestieren muss. Fehlt nur noch das „Focus“-Siegel für „Exzellenten Journalismus“. 

Umfragen belegen, dass immer mehr Deutsche die Glaubwürdigkeit auch der öffentlich-rechtlichen Medien anzweifeln. Von Privatsendern, Yellow-Press oder parteitreuen Lokalzeitungen ganz zu schweigen. Der Diskurs einer engagierten Bürgerschaft, den sich Bundespräsident Steinmeier wünscht, ist heute in weiten Teilen entkoppelt von der medialen Berichterstattung. Die Bürger sind auf der Suche nach der eigenen Wahrheit. 

Aktuell befinden sich Land, Journalismus und Medien in einer Abwehrschlacht und im Krisenbewältigungsmodus. In dieser Schlacht wird nahezu jede Aktion und Aussage des politischen Gegners angeschossen. Aus Prinzip und ohne sachliche Begründung. Es ist kaum mehr eine Position, eine Haltung oder eine Linie zu erkennen. Dabei wären Vertrauen und Glaubwürdigkeit in die vierte Gewalt gerade in Krisenzeiten besonders wertvoll. Investigativer, unabhängiger Journalismus könnte einen entscheidenden Beitrag leisten, ein neues Narrativ und neue Ziele für unser Land zu entwickeln. Ohne dies droht dauerhaftes Chaos.

Der Digitalstratege, Ex-Verlagsfachmann und leitende Journalist Thomas Bily schreibt regelmäßig für Clap. Mehr über ihn erfahren Sie auf seiner Webseite digital-age.marketing.