Frau Superlativ

Seit Anfang des neuen Jahres übernahm der SWR offiziell den ARD-Vorsitz vom WDR. Seitdem hat Marieke Reimann als zweite SWR-Chefredakteurin federführend die Runde der ARD-Chefredakteurinnen und Chefredakteure übernommen. Die frühere „Zeit“-Frau Reimann, die auch neue Audiostratgien voranbringen soll, wird so sicherlich für frische Impulse bei den öffentlich-rechtlichen Sendern sorgen. Aus diesem aktuellen Grund veröffentlichen wir hier das Titelportrait von Bijan Peymani aus unserem letzten Clap Magazin hier in voller Länge.

Frau Superlativ

Marieke Reimann verkörpert den Typ moderner Frauen, die vorbildhaft mitgestalten möchten. Dafür hat sich die gebürtige Rostockerin früh in Position gebracht. Im Dienst der Gesellschaft fühlt sich Reimann berufen, überholte Denk- und Handlungsmuster eines Medien-Patriarchats aufzulösen. Als SWR-Vize-Chefin setzt sie auf Evolution, offenbart das „Clap“-Gespräch.

 

Ortstermin Berlin-Prenzlauer Berg. Ein für diese Jahreszeit vergleichsweise milder, sonniger Tag. Wir sind mit Marieke Reimann im Mauerpark verabredet. Die Grünanlage zwischen den heutigen Bezirken Pankow und Mitte bildete einst den Todesstreifen der ehemaligen „DDR“-Grenzanlagen. Wo sich vor allen an den Wochenenden die kunterbunten Hauptstädter treffen – Flohmarkt, Grillen und Karaoke inklusive –, soll heute ein „Clap“-Shooting stattfinden.Wir sind gespannt auf Frau Superlativ, die jüngste „Soundso“ der neueren Medien-Geschichte.

Anfang 2018 wurde Reimann Deutschlands jüngste Chefredakteurin, damals des inzwischen eingestellten Online-Magazins „ze.tt“ aus dem ZEIT-Verlag. Seit Ende 2021 ist sie die Zweite Chefredakteurin des Südwestrundfunks (SWR), auch das ein Novum, jedenfalls für den ARD-Verbund. Reimann war nicht nur die erste Frau aus dem Osten in dieser Funktion, sondern bei Antritt gerade einmal zarte 34 Jahre. Wer also wird da wohl erscheinen, zum Shooting? Eine Überehrgeizige? Eine ganz Öffentlich-Rechtliche? Hübsch beblust, brav mittelgescheitelt?

Von wegen! Marieke kommt im Antifa-Look. Schwarze Kutte, schwarze Hochwasserhosen, schwarze Doc Martens („sehen zu allem fetzig aus“). Extrem lässig, sehr cooler Style! „Ich lauf immer so rum“, sagt Reimann in ihrer manchmal etwas rotzig-trotzigen Art. Tatsächlich entdeckt, wer ihren Insta-Account „riemreim“ anklickt, die ganze Bandbreite einer unerhört selbstbewussten Frau, die lässig ebenso beherrscht wie lümmelhaft oder ladylike. Das wirkt nicht kalkuliert, sie entscheidet nach Anlass und Stimmung: „Ich bin einfach so, wie ich bin.“

Unverstellt, direkt, eigenwillig – das ist Reimann, die ihren Lebensmittelpunkt unüberhörbar in der Hauptstadt hat. In Ost-Berlin, um genau zu sein. Bei Themen, die ihr wichtig sind, will die Mittdreißigerin ihren Punkt machen. Da wird sie manchmal anstrengend, ohne sich total zu verbeißen. Im Gespräch hält sich Reimann nicht allzu gern und also auch nicht allzu lange mit Höflichkeiten auf. Small-talk scheint dieser Vorzeige-Journalistin mit selbstbestimmter Vorbildfunktion zumindest im Business zu banal zu sein und ihre Zeit dafür zu schade.

Reimanns Talent zur Fokussierung auf’s Wesentliche, ihre ungeduldige Zielstrebigkeit, prägt und erklärt ihr Werden und Wirken. Geboren in Rostock, kurz vor der Wende, wuchs sie mit ihrer jüngeren Schwester bei der Mutter im Ortsteil Schmarl auf, einem Plattenbauviertel im Nordwesten der Hansestadt. Reimann, ein Scheidungskind, hat noch eine zweite, ebenfalls jüngere Halbschwester, die damals beim Vater lebte. Ihren eigenen Weg hatte Marieke schon früh für sich klar, machte sich bald unabhängig von Normen und allgemeinen Erwartungen.

So habe sie „in der Oberstufe schon öfter mal die Schule geschwänzt, weil sie mir an vielen Stellen zu langweilig war“. Sie habe dann meist lieber ausgeschlafen. Oder ist an den Ostsee-Strand gefahren, von Schmarl aus ein Katzensprung. „Tolle Jugend, denke ich im Nachhinein, es gibt Schlimmeres, als im Bikini unterm Shirt zur Schule zu fahren.“ Bei ihrem steten Vorwärtsdrang hätte man in der jungen Marieke eher die Streberin vermutet. Diese Beleidigung kontert sie brüsk: „Eine Streberin, weil ich zielstrebig für meine Werte einstehe? Das müssen Sie mir erklären!“

Reimann drängte es, mitzugestalten, etwas zu bewegen. Und deshalb war sie natürlich nicht nur Klassen-, sondern später sogar Schulsprecherin. Ihr Antrieb sich zu engagieren sei, „dass mir sehr schnell Missstände auffallen, und dann möchte dazu beitragen, dass sich was ändert“. Eine Haltung, die ihren Berufswunsch formte. „Ich bin in einem Haushalt groß geworden, in dem Medien eine wichtige Rolle spielten. Wir hatten ein paar Print-Abos, abends lief immer die ,tagesschau’“. Ihre eigene Lebenswirklichkeit sah sie allerdings nie wirklich abgebildet.

„Ich wollte Journalistin werden, um die Geschichten zu erzählen, die nicht erzählt wurden.“ Und so arbeitete Reimann bereits in der Oberstufe als Schüler-Reporterin für die Rostocker „Norddeutsche Neueste Nachrichten“, im Abiturjahr für den „Rostocker Offenen Kanal“ (rok-tv), einer Einrichtung der Medienanstalt Mecklenburg-Vorpommern. Parallel zum Studium an der TU Ilmenau erhielt die zielbewusste junge Frau mit 20 Lenzen erstmals eine Position als Chefredakteurin beim dortigen Studentenradio „hsf 98.1“, später bei „medienbewusst.de“.

Über Praktika bei ProSiebenSat.1 Digital und der „Süddeutschen“ (beides in München), bei RTL Interactive in Köln und „11 Freunde“ in Berlin sammelte Reimann weitere Erfahrung in diversen Mediengattungen. Während ihres ersten Studiums in Ilmenau erkannte sie, dass es „große Lücken im Online-Journalismus“ gab und spezialisierte sich auf eben diesen – „was im Nachhinein eine äußerst gute Idee war“. 2015 stieß Reimann zum Gründungsteam von „ze.tt“, schnitt es inhaltlich und sprachlich auf die Gens „Y“ und „Z“ zu, entwickelte das erste Paid-Membership-Modell für diese Kohorten.

Dass es überhaupt dazu kam, ist der Güte des Schicksals zu verdanken. Ihren Bachelor in der Tasche, sattelte Reimann 2012 die Hühner und zog nach Malta. Eigentlich hätte es Australien werden sollen, doch dafür hatte die Mittzwanzigerin nicht genug Kohle im Rücken. „Aber ich wollte irgendwo hin, wo man Englisch spricht, es warm ist und man gut surfen kann. Da war eben Malta die Alternative.“ Auf unbestimmte Zeit wollte Reimann da verweilen – außer, die Deutsche Journalistenschule in München würde sie annehmen. Die zweite Bewerbung zog.

„Ich kam also nach einem Jahr Malta zurück nach München, das war ein Kulturschock.“ Man hört ihr Bedauern in der Stimme, auch heute noch. Aber Reimann hat sich reingekniet. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, schob sie vor dem Unterricht an der DJS regelmäßig Frühschichten beim Bäcker. Abends arbeitete Reimann als Werksstudentin beim Newsdesk von „Focus Online“ und parallel als Freie für den Sportteil der „SZ“. Über den Sport schaffte sie nach Ausbildungsende auch ihren Einstieg in ihr Berufsleben. Sport war und ist ihr Leben.

Im Jugendalter flitzte Reimann im Rostocker Frauen-Fußball über die rechte Seite, entschied sich dann – obgleich nur 1,74 – mit 16 oder 17 für ihre andere große Leidenschaft Basketball, entdeckte während des Studiums auch Handball für sich. Heute zieht es sie vor allem auf und ins Wasser, sie joggt, wandert, fahrt Rad. Und ab und zu wirft sie zur Entspannung auf einem Platz bei sich um die Ecke noch ein paar Körbe. Bei der Sportberichterstattung fiel Reimann auf, dass die fast nur aus der Männer-Perspektive erfolgte – Protagonistenauswahl inklusive.

 „Frauen im Sport fanden medial damals kaum statt, aber ich war sicher, dass man mit einem diverseren Ansatz mehr rausholen kann.“ Außerdem habe sie am Sportjournalismus gereizt, dass es immer um Wettbewerb geht – zwischen mehreren, aber auch innerhalb eines Teams. „Und im Sport mischt sich Wettkampf mit Politik. Ich fand es absurd zu sagen, Politik habe da nichts zu suchen, das wollte ich mithelfen aufzubrechen.“ Profan wirkt das (wenn auch vom selben Grundmotiv geprägt) mit Blick auf die Themen, die Reimann seither bewegen.

So macht sie sich für eine geschlechtergerechtere Sprache stark: „Sprache erzeugt Bilder. Und wenn die Bilder im Kopf der Menschen zu den immergleichen oder bestimmten Vorstellungen führen, dann erreichen wir eine Grenze mit dem, was wir mit Sprache aufzeigen können.“ Sie illustriert das anschaulich: Sitzen zwei Piloten im Cockpit, sagt die eine zur anderen, es hätte jetzt niemand gedacht, dass wir zwei Frauen sind. „Wir sind es gewohnt, dass die Gesellschaft in Männlichkeit beschrieben wird. Das aber schließt Frauen und non-binäre Personen aus.“

 Auch die Berichterstattung über Ostdeutschland sei bis heute zu pauschalisierend und sogar in Teilen „peinlich“, kritisiert die Rostockerin. Wahlweise werde der „dumme, abgehängte Ossi“ präsentiert oder der rechtsgewickelte Demokratie-Feind. Reimann sieht ähnliche Muster etwa bei Berichten über Minoritäten oder Menschen mit Behinderung. „Das liegt vor allem daran, wer wo in welchen Medien sitzt und die Entscheidungen trifft. Die Chefetagen sind voll mit weißen, westdeutschen Akademikern – und ich sage bewusst ,Akademiker’.“

Für Reimann ist es „ein Grundproblem des deutschen Journalismus’, dass er überaus elitär daherkommt“ und aus dieser Haltung heraus verfehlt, seine eigentlichen Zielgruppen auf Augenhöhe anzusprechen. Um das zu verändern, müsse sich die Medienlandschaft diverser aufstellen – mit Arbeiterkindern, Menschen mit gebrochenen Lebensläufen und solchen, die einen migrantischen Hintergrund haben. „Sie bringen unterschiedliche Lebenswirklichkeiten mit, die das Spektrum der Gesellschaft viel realistischer abbilden“, ist Reimann überzeugt.

Ein Viertel habe eine Einwanderungshistorie, ein Fünftel ostdeutsche Wurzeln – „bleiben wir nur bei diesen beiden Gruppen: Die erreichen wir so, wie wir heute über die Welt berichten, nicht“. Doch weiterhin fehle es in deutschen Medienhäusern an Perspektiven für junge und migrantische Talente. „Unternehmen und Ausbildungsstätten bemühen sich zunehmend um Diversität, aber diese Angebote müssen sich die Jung-Journalistinnen und -Journalisten auch leisten können und sie überhaupt erst mal wahrnehmen.

Reimann, die nach einem kurzen Intermezzo in Leipzig seit 2014 in der Hauptstadt lebt, zeigt Sendungsbewusstsein, aber keinen missionarischen Eifer. Ganz im Geiste Max Webers ist sie nicht von einer rücksichtslosen Gesinnungs-, sondern von abwägender Verantwortungsethik geleitet, die, zwar von Ungeduld angetrieben, stets die Folgen des eigenen Handelns bedenkt. Sie will Vorbild sein, handelt intuitiv, macht sich sichtbar. Das Talent zur Selbstvermarktung mag vielen Ostdeutschen nicht unbedingt in die Wiege gelegt sein – einer Reimann schon.

Sie habe nie eine Karriere angestrebt, sagt sie selbst. Dem „Medium Magazin“ verriet sie vor gut einem Jahr jedoch: „Durch den Druck, selbst in bessere Lebensumstände zu kommen, und das Ziel, andere Lebenswirklichkeiten sichtbar zu machen, habe ich sehr früh angefangen, sehr hart zu arbeiten.“ Klingt ehrlich und doch fast etwas zu klischeehaft. Erfolg hat nur, wer ihn unbedingt will. Dazu gehört neben Biss ein gesundes Selbstwertgefühl: Reimann ist sich ihres Könnens sicher, forderte stets und fordert auch heute Wertschätzung und Förderung ein.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich die Frau nicht korrumpieren lässt. Sie bemüht sich, eine gesunde Distanz zu ihrem eigenen und zum Treiben der anderen zu wahren. So macht sie etwa um Twitter einen Bogen, „weil mir die Diskussionskultur da viel zu aggressiv ist und ich nicht den Eindruck habe, dass dort ein Austausch auf Augenhöhe stattfinden kann. LinkedIn halte ich für ne PR-Marketingbubble, auf der ich nur von zwielichtigen CEOs zum Kaffee eingeladen werde, weil sie mein Profilbild hübsch finden“. Facebook nutzt sie nie, Instagram und TikTok jeden Tag.

 

Ihre innere Unabhängigkeit macht Reimann in diesen Tagen extrem wertvoll für den ARD-Verbund, mit Blick auf den viel diskutierten, ziemlich dringenden Reformbedarf. Andererseits könnte ihr Job mit der greifbaren Angestrengtheit um sie herum in ihr Reaktanzen auslösen. Fürs Erste hält sich Reimann schadlos, zumindest äußerlich. Doch ihr Pflichtenheft gewinnt an Umfang. Ab Januar 2023 übernimmt der SWR offiziell den ARD-Vorsitz vom WDR. Dann koordiniert Reimann die Runde der ARD-Chefredakteurinnen und -redakteure.

Sie soll zudem dem Ausbau vor allem der ARD-Audiostrategie innerhalb des Verbunds den Weg bereiten. In diesem Kontext fokussiert sie stärker auf die non-linearen ARD-Angebote um Audiothek und Podcasts. Auch Inhalte für Smartspeaker und In-Car-Anwendungen sowie KI-gestützte Audi-Angebote im Web soll es bald geben. „Ich bin die Zweite Chefredakteurin in der Multimedialen Chefredaktion in der Programmdirektion des SWR. Das bedeutet, dass ich im historischen Sinne der SWR-Struktur die Hörfunk-Chefredakteurin bin.“

Mit ihrem Jobstart wurde dieses überholte Konstrukt aber aufgebrochen, so dass sie jetzt viele Audio-Inhalte sowohl mit digitalen, als auch modernen Bewegtbild-Inhalten und einem neuen Führungsverständnis verknüpft. Doch ihre Arbeit bleibt ein Kampf: „Wir bewegen uns derzeit täglich zwischen Revolution und Shitstorm.“ Als ihren größten Erfolg beim SWR beschreibt Reimann den mit rbb und WDR kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges aufgesetzten, seither millionenfach abgerufenen Podcast „Alles ist anders“.

Betrieben wird er „von jungen Hosts mit ukrainischem und russischem Background für junge Menschen – darauf bin ich echt stolz, weil wir sehr schnell sehr gute Background-Infos zu einem Krieg liefern konnten, von dem alle überrumpelt wurden“.

Fotos: Stephan Pramme