Bily wundert sich: über die neue „Anti-Paywall-Kampagne“

Gestern war ich in Berlin beim Timeride: 40 Jahre DDR in zehn Minuten. Da müssten doch auch 30 Jahre Focus in zwei Minuten hinzubekommen sein.

Bei der Gründung war der gedruckte „Focus“ ein richtiger Kracher und zumindest optisch eine anregende Alternative zur schwarz-weißen Bleiwüste des Spiegels. Helmut Markworts Marketingtruppe zog schlaue Kampagnen auf und wirbelte den Montagsmarkt durcheinander. Damals, Anfang der 90er, spielten Online-Angebote noch keine große Rolle. 

Focus Online wurde erst 1996 auf die deutschen Internet-User losgelassen und hatte 1997 schon den Spitzenplatz erobert. Während man in Hamburg weiterhin glaubte, dass Print auf Dauer reichte, gab Verleger Dr. Burda Vollgas im Netz. Er musste ja nicht erst in Gütersloh oder sonst wo nachfragen, wenn er die Schatulle öffnete. 

Focus Online segelte von einem Reichweiten-Rekord zum nächsten. Getragen durch reißerischen Journalismus, der mit Hilfe von Suchmaschinen-Optimierung zu monetarisierbarer Reichweite veredelt wurde. In Hamburg war man noch dabei, die Wirkmechanismen des Internets zu erforschen. 

Focus Online gönnt sich bis heute einen eigenen Vermarktungsapparat mit Online-Spezialisten. Dem normalen BCN-Mitarbeiter traut man wohl nicht zu, wirtschaftliche Preise für diese Art von Reichweite beim Kunden abzurufen. Wobei… der über Werbung finanzierte Betrieb von Online-Portalen wie Focus Online dürfte ohnehin immer schwieriger werden. Das Gros der Budgets wandert schon heute zu GAFA und nichts spricht dafür, dass dieser Trend sich abschwächt.

So versuchen viele Betreiber seit Jahren, Bezahlmodelle für ihre Angebote aufzubauen. Umso interessanter ist die Ankündigung von Focus Online, weiterhin ohne bezahlte Inhalte auskommen zu wollen. „News ohne Ende. Keine Paywall, keine Kosten!“, so das Versprechen auf der Homepage. Focus Online will sich weiter über Werbung finanzieren. Dabei geht es nicht um klassische Formate wie Banner oder Themenspecials, sondern eher um Provisionen für den Verkauf von Wein, Matratzen und Zeckenschutzmittel.

Man könnte das als idealistisch heroische Aktion eines einschlafenden Journalismus werten: Noch ein paar Jahre kostenlose News für das Volk und danach – mal schauen. Die Wahrheit ist wohl eher so, dass die Focus Online-Entscheider genau wissen, dass sie realistischer Weise mit ihrer Art von Journalismus anders umgehen müssen.

2.000 Matratzen à 100 Euro und davon 15 Prozent machen 30.000 Euro. Da muss der „Spiegel“ schon 7.500 User gewinnen, die (mindestens) vier Euro pro Monat für die werbefreie Nutzung der Inhalte zahlen.

Das könnte sich rechnen.  

Digitalstratege und Ex-Verlagsfachmann Thomas Bily schreibt regelmäßig für Clap. Mehr über ihn erfahren Sie auf seiner Webseite digital-age.marketing

Foto: Alexander von Spreti