Der Autor und Regisseur Reinhard Ehret gilt deutschlandweit als erfahrener Experte des Eurovision Song Contest. Er war oft als Berichterstatter aber auch als Fan live dabei. 2023 ist er in England schon zum 14. Mal vor Ort. Zusammen mit GoldStar TV sendet er ab morgen, also in der Vorwoche des Eurovision Song Contest, jeden Abend Sondersendungen, um die Vorfreude Tag für Tag zu steigern. Wir trafen ihn zum Interview für eine kleine Vorausschau.
Herr Ehret, warum freuen sie sich besonders auf Liverpool?
Ehret: Ich verfolge diese Show in der Tat sehr intensiv schon seit 1970. Liverpool wird sicher großartig, weil ich eine außergewöhnlich gute BBC-Produktion erwarte und ich unsere deutschen Vertreter richtig stark finde.
Gothic-Rock ist eine Spielart, die sicherlich nicht jedem gefallen wird. Warum glauben Sie, dass die Band „Lord of the Lost“, die schon seit vielen Jahren in der speziellen Gothic-Szene unterwegs sind, dennoch ein gute Platzierung für Deutschland erreichen könnte?
Ehret: Die Jungs sind mit Leib und Seele Musiker und im diesjährigen Starterfeld mit ihrem „Blood & Glitter“ unverwechselbar. Ich durfte drei von ihnen persönlich kennenlernen. Sie waren beim Clubtreffen von OGAE Germany – in diesem ESC-Fanclub bin ich Vizepräsident – Ende März zu Gast und strahlten eine unglaublich starke Leidenschaft für den Contest aus. Und genau diese große Lust auf die Megashow war schon immer der Nährboden für großen Erfolg. Außerdem halte ich Song und Performance für richtig gut, obwohl ich nicht der ausgewiesene Gothic-Rock-Fan bin.
Wie wird das denn ihrer Meinung nach vom internationalen Publikum aufgenommen werden, wenn die Deutschen plötzlich mit einem ganz anderen Sound auftreten? Das hat ja so gar nichts von „Ein bisschen Frieden“ …
Ehret: Das Publikum merkt sich weniger „Nationales“ als man vielleicht denkt. Ich bin davon überzeugt, dass jedes Jahr die Karten neu gemischt werden. Anders wäre es gar nicht zu erklären, dass Portugal 2017 nach so vielen Jahren des Misserfolgs plötzlich souverän gewinnen konnte. Da gab’s einen Sänger und ein Lied – beides berührte die Zuschauer ganz offenbar auf besondere Weise. Und auf einmal waren alle schlechten Platzierungen dieses Landes passé. International weiß man, dass in Deutschland – siehe Rammstein – auch ordentlich „gerockt“ wird, also wird das nicht auf außergewöhnliche Verwunderung stoßen.
Was gehörte denn eigentlich rückblickend zu den besten ESC-Events, die sie erlebt haben? Und welche drei Songs hören Sie sich bis heute immer noch gerne an?
Ehret: Ich habe 2015 in Wien „meinen“ wohl schönsten Song Contest erlebt. Damals war nicht nur das Programm der Show herausragend, sondern die ganze Stadt war in dieses Großereignis eingebunden. Aus allen Ecken klang Eurovisionsmusik! Taxis und Trambahnen hatten ESC-Outfit, in der Staatsoper gab es einen „Classic-meets-Eurovision“-Abend – man hatte das Gefühl, alles drehe sich zwei Wochen lang nur um den Eurovision Song Contest. Diese Atmosphäre ist seither nie mehr übertroffen worden. Unter meinen Song-Favoriten sind einerseits unvergängliche Klassiker wie Joy Flemings „Ein Lied kann eine Brücke sein“ und Katja Ebsteins drei Contest-Beiträge („Wunder gibt es immer wieder“, „Diese Welt“ und „Theater“), aber auch exotische Juwele wie „Deixa-me sonhar“ von Rita Guerra aus Portugal und „Fra Mols til Skagen“ von Aud Wilken aus Dänemark. Solche Popmusik-Preziosen gibt es eben nur beim ESC.
Mainstream Media-Redaktionsleiter Erhet ist auch Mitglied im ESC-OGAE-Fanclub.
Nun ist ja der ESC in Liverpool, der Beatles-Stadt. Und die Engländer wissen, wie große Shows funktionieren. Könnten Sie sich vorstellen, dass Paul McCartney einen Auftritt haben wird?
Ehret: Ich schließe das nicht völlig aus, aber erwarte es nicht. Ich finde zwar, Paul und Ringo sollten sich dieses Event, das so schnell in deren Heimatstadt wohl nicht mehr stattfinden wird, nicht entgehen lassen – aber andererseits sind sie bei diesem Thema wohl doch etwas außen vor. Grundsätzlich war die BBC schon immer darauf bedacht, allein schon aus regionalpolitischen Gründen nicht alles in London stattfinden zu lassen, sondern auch andere Städte des Vereinigten Königreichs zu Austragungsorten zu machen. So hatten wir schon Song Contests in Birmingham, Brighton und sogar im beschaulichen Harrogate. Für Liverpool sprach diesmal wohl vor allem, dass die dortige Arena sechs Wochen lang zur Verfügung steht. So viel Zeit braucht diese riesige Produktion. Ich hoffe sehr, dass Herr McCartney vielleicht doch neugierig ist, wie seine Heimatstadt dieses gigantische Festival wuppt.
Denken wir hierzulande eigentlich ein wenig nationaler als andere Nationen? Manchmal wird der ESC ja zelebriert wie ein Länderspiel, es scheint weniger um die Musik zu gehen…
Ehret: Naja, ein bisschen patriotisch ist man wohl vielerorts. Aber wir Deutschen bewerten die nationale Zugehörigkeit eines Beitrags möglicherweise wirklich etwas zu hoch. Und wenn „wir“ mal wieder keine Punkte bekommen haben, werden schnell Stimmen laut, das ginge mit einer Geringschätzung unseres Landes einher. Ich verweise bei solchen Gelegenheiten immer gerne auf Lenas Sieg 2010 und auf den tollen 4. Platz von Michael Schulte 2018. Also: Wenn „wir“ ein mitreißendes Lied haben, können „wir“ auch punkten.
Ihr Kollege Peter Urban, der ja zum letzten Mal moderieren wird, ist ja besonders kenntnisreich, was die einzelnen Songs betrifft. Wen würden Sie sich denn als Nachfolger wünschen?
Ehret: Da mische ich mich nicht ein. Innerhalb der ARD wird man da sicher einen Guten oder eine Gute finden. Ich hoffe, die Verantwortlichen suchen sich jemanden aus, der genauso kompetent, eloquent und stimmcharismatisch ist wie Peter. Man sollte bei der Auswahl die Qualität der Stimme und der Stimmlage als wichtiges Kriterium begreifen – das kommt mir heutzutage bei vielen Produktionen (auch im Sport) viel zu kurz. Es wird ab dem kommenden Jahr so oder so sicher ein völlig anderes Grand-Prix-Gefühl geben, wenn man sich an eine andere Kommentatorenstimme gewöhnen muss.
Sie sind ja auch mit Katja Ebstein befreundet, sie gilt ja als die deutsche Grande Dame des ESC, weil sie als einzige Interpretin drei Mal in den Top3 platziert war. Wissen Sie eventuell, ob sie auch den Lord of the Lost-Rocksound befürwortet?
Ehret: Katja befürwortet alle, die gute Musiker sind und ist sehr offen für alle möglichen Musikstile. Insofern findet sie „unseren“ Beitrag diesmal besonders gut. Auf dem OGAE-Clubtreffen hat Katja die drei Bandmitglieder Chris, Pi und Klaas kennengelernt und sie mit den Worten „Ihr seid richtig jut“ gelobt. Außerdem findet sie, wie übrigens sehr viele Fans und Experten, Chris Harms‘ Stimme großartig. Und wer weiß? Vielleicht heißt es ja nach dem 13. Mai für uns alle „Wunder gibt es immer wieder“!
Interview: Daniel Häuser