Pit Gottschalk: King of Football Rock’n’Roll

Neben dem Aus von Olaf Schröder als Sport.1-Chef wurde überraschend auch der Weggang von Chefredakteur Pit Gottschalk bekanntgegeben.

Noch vor einem Jahr hatten wir ihn im großen Portrait, geschrieben von Bijan Peymani, im Clap-Printheft. Aus aktuellen Anlass veröffentlichen wir es erstmals online. 

Die Massen lieben den Fußball. Pit Gottschalk lebt ihn. Als Spielmacher hat er bei Springer über zwei Dekaden die Sportberichterstattung geprägt. Irgendwann war er ausgebrannt. Mit Sport1 trainiert Gottschalk heute ein ambitiöses Team in der TV-Provinz. Im Clap-Gespräch kritisiert er seine Zunft und erklärt, warum Sportjournalisten einen „Schweinejob“ haben.

Krooos! Was erlauben Kroos?! Kaum ein Ereignis aus jüngerer Zeit hat Fußball-Deutschland so erregt wie Toni Kroos’ „Colloquium Interruptus“ mit Nils Kaben. Der ZDF-Reporter hatte den Mittelfeld-Star von Real Madrid nach dem durchaus glücklichen Gewinn des Champions-League-Finales die von Kroos in seiner Wahlheimat gewohnte, ergo nun erwartete Huldigung versagt und – infam! – kritische Fragen zum Spiel gestellt. Genervt brach der Fußball-Flegel aus Greifswald das Gespräch ab und schickte Kaben noch manche Nickligkeit hinterher.

Während die Nation mehrheitlich Verständnis für Kroos’ Reaktion aufbrachte – was einiges über die Streitkultur im Land aussagt –, spricht Pit Gottschalk von einer „Unverschämtheit“: „Das war schlicht respektlos“, schilt der Chefredakteur von Sport1 den Spieler, „und dieser Respekt gegenüber der Arbeit von Sportjournalisten geht zunehmend verloren.“ Gottschalk bedauert, dass sich die TV-Kollegen nicht solidarisch mit Kaben gezeigt und jedes weitere Interview mit Kroos abgelehnt hätten. „Stattdessen ging es ihnen vor allem um ihre Schlagzeile.“

Tatsächlich hatte ZDF-Mann Kaben – wenn auch fragetaktisch etwas unklug – nur seinen Job gemacht. Und hochbezahlte, medienaustrainierte wie -erfahrene Kicker müssen das aushalten. Beispielhaft dafür stehen Per Mertesacker während der WM 2014 in Brasilien („Eistonnen“-Interview mit Boris Büchler) und Thomas Müller, der am Mikro auch schon mal sarkastisch werden kann, seinem Gegenüber aber stets mit Achtung begegnet. Etliche Star-Kicker haben dies offenbar nicht mehr nötig (siehe Kroos) – oder nie gelernt, wie im Falle von Leroy Sané.

Der, erzählt Gottschalk, bei Sport1 in Personalunion King of Content über alle Ausspielwege, habe dem Sender ein zuvor vereinbartes Interview abgesagt, weil Sport1 den Zuschauern im Stadion das Recht zugesprochen hatte, Sané für seinen Grotten-Kick auszupfeifen. „Das hat er uns übel genommen“, erinnert sich der gebürtige Aachener – und geht dann konsequent ins Pressing: „Wo sind wir denn gelandet, dass die Zuschauer ihren Unmut über die mangelhafte Leistung eines Spielers nicht mehr zum Ausdruck bringen können?“

Genau das liege doch „in der DNA des Fußballs“. Er frage sich manchmal, warum viele der Kollegen ein Verhalten wie von Sané hinnähmen, statt klar dagegen Stellung zu beziehen? Das macht Gottschalk in der Tat fassungslos: „Wie konnte es passieren, dass diese Spieler eine solche Macht bekommen – und wir Journalisten sie vor allem bei Laune halten sollen?“ Die Vereine sehen in ihren Protagonisten eben keine profanen Fußballer mehr, sondern echte Vermögenswerte. Und die wollen für fortgesetzte Wertsteigerung pfleglich behandelt sein.

Das war einmal anders. Gottschalk, seit 30 Jahren mit diesem Sport verbunden, erinnert sich gut: Als junger Reporter wartete er am Spielfeldrand, bis einer der Ordner den Zaun öffnete. „Dann konntest Du jeden Spieler abpassen und ein paar spontane Reaktionen einfangen.“ Als Chefreporter der „Sport Bild“ habe er während der EM 1996 einfach die halbe Mannschaft auf ihren Hotelzimmern durchtelefoniert. Die knackigsten Aussagen fanden sich im Blatt. Heute undenkbar. In diesem Milliarden-Geschäft wird nichts mehr dem Zufall überlassen.

Fußball ist ein knallhart kontrolliertes, perfekt inszeniertes Produkt. „Wir Sportjournalisten haben einen echten Schweinejob“, sagt Gottschalk, „die Protagonisten brauchen uns nicht mehr unbedingt als Multiplikatoren.“ Vereine, Liga-Betreiber DFL und Nationalverband DFB haben längst eigene Strukturen aufgebaut, die bisweilen sogar schlagkräftiger sind als die vieler Sportredaktionen hierzulande. Dazu kommen die Social-Media-Aktivitäten der Spieler, mit ihren Abermillionen Followern.

„Alle Botschaften, die sie senden, können sie so ungefiltert verbreiten – ohne Gegenrede oder nervige Nachfragen, und das wissen diese Spieler genau.“ Schlimmer ist: Sie wirken oft auch noch glaubwürdiger als die meisten Medienvertreter, üben allein mit ihrer schieren Masse an Empfängern zudem immense Macht aus. „Und wir Sportjournalisten haben bis jetzt nicht die passende Antwort darauf gefunden“, analysiert Gottschalk selbstkritisch, „außer, dass wir mit dem Fuß auf den Boden stampfen und beteuern, unabhängig zu sein.“

Die dauerhaft – und ganz sicher selbstverschuldet – geschwächte Position seiner Zunft öffnet journalistischen Fehlentwicklungen Tür und Tor. Um überhaupt noch Zugang zu den Stars zu erhalten, gerieren sich viele Kollegen in Interviews als geschmeidige Stichwortgeber. Wo sie ihre Stimme erheben müssten, ziehen sie es vor zu schweigen. Und wird einer der ihren unfair attackiert, bleiben sie lieber in der Deckung, statt beizuspringen und ihren Rücken gerade zu machen. Einen der Verantwortlichen macht Gottschalk im Verband Deutscher Sportjournalisten aus.

Den kritisiert der 53-Jährige „ausdrücklich“. Es sei zu wenig, Pressetickets für die Tribüne zu organisieren, Geburtstage zu zelebrieren und sich darin zu gefallen, dass man Presseausweise ausstellen darf. „Unser Verband muss endlich Grundsatzfragen im Umgang zwischen Medien- und Fußball-Vertretern diskutieren. Dazu gehört, um der eigenen Unabhängigkeit willen den Protagonisten auch einmal die Stirn zu bieten.“ Gottschalk verortet Defizite in der Ausbildung ebenso wie im journalistischen Selbstverständnis. Und er vermisst eine „ordnende Kraft“.

„Es muss etwas passieren“, mahnt Gottschalk, „die Causa Kroos zeigt, dass für uns weit mehr auf dem Spiel steht als ein abgebrochenes Interview!“ Die Ausbildung im Sportjournalismus sei über die Jahre vernachlässigt und zu stark auf die Vermittlung des Handwerks ausgerichtet worden. „Der Nachwuchs ist kaum noch mit Fähigkeiten ausgestattet, um auf die veränderten Rahmenbedingungen reagieren zu können“. Als ein Beispiel nennt Gottschalk das Erstellen eigener Podcasts, die – weil Gespräch in Reinform – effektiv gegen die „Autorisitis“ wirken.

„Wir müssen wieder zu einer inneren Wahrheit finden – weg von der publizierten Wahrheit, die dominiert heute zu sehr“, fordert Gottschalk. Geht es nach ihm, der bekennt, ein News-Dealer mit Sendungsbewusstsein zu sein, werden künftig nur noch die Allerbesten ins Rennen geschickt. Natürlich sei das auch eine Frage der Ressourcen. „Aber vor allem der Kultur, des Willens, auch einmal dahin zu gehen, wo es weh tut, wo man sich schmutzig macht. Wir haben heute im Sportjournalismus zu viele Stubenfliegen, die in ihren News-Rooms hocken.“

Kaum einer von denen wisse noch, wie sich das Klackern der Stollen im Spielertunnel anhöre oder es rieche, wenn der Rasen für das Spiel frisch gemäht sei, kritisiert Gottschalk. Er räumt ein, so nah an die Protagonisten heranzukommen, sei für die Kollegen heute ziemlich schwer: „Durch die Professionalisierung des Fußballs ist das Anarchische verloren gegangen.“ Aber das Gros der Medienhäuser gebe sich zumeist damit zufrieden, an der Oberfläche zu bleiben, achte weniger auf inhaltliche Tiefe und mehr darauf, dass Geschichten „funktionierten“.

„Wir dürfen nicht nur vermelden, nicht nur beschreiben, wir müssen vor allem einordnen und Hintergründe liefern“, sagt der Sport1-Manager. Für Gottschalk, den dpa-Chefredakteur Sven Gösmann vor einiger Zeit zu einem der „letzten Rock’n’Roller des Sportjournalismus“ adelte, ist Reichweite wichtig, ohne Relevanz allerdings ein Muster ohne Wert. „Ich darf für mich in Anspruch nehmen, dass ich weiß, wie man Reichweite erzeugt. Aber ich weiß auch genau, was relevant ist.“ Anders als PR-Leute hätten Journalisten eben keinen Erfüllungsauftrag.

„Um wirklich gut zu sein, kannst Du diesen Beruf nur aus Berufung machen, denn der ist echt anstrengend“, bekennt Gottschalk. „dafür musst Du bereit sein, Dich von Deinem Arbeit- oder Auftraggeber und auch von Dir selbst täglich an die Grenzen treiben zu lassen.“ Oft genug darüber hinaus. „Was Dich trägt, ist Deine Leidenschaft – Du musst das lieben, was Du da machst.“ Ein gutes Maß Wahnsinn gehört wohl dazu. Pit, der eigentlich Peter heißt, bringt all das mit. „,Peter’ steht in meinem Pass. Zu ‚Pit’ wurde ich in der Öffentlichkeit, weil nur das noch in die Autorenzeile passte.“

Aufgewachsen ist Gottschalk in Roetgen in der Nordeifel. Da hat er auch das Fußballspielen erlernt, beim „FC 13“, damals wie heute immerhin Bezirksligist. Obwohl kein Riese, war er Torwart. Die größten Erfolge seiner Karriere auf dem Platz: Der Gewinn des Pfingstturniers der A-Jugend und das 2:1 beim Lokalrivalen SV Rott – „einen Tag vor der Abi-Pprüfung“, wie Gottschalk bedeutungsvoll hinterherschickt. Der Mann hat Nerven! Parallel arbeitete er da ja längst auch für die „Aachener Nachrichten“, erst frei, später als fester Freier.

1990 folgte der Umzug nach Halle an der Saale: Zwei Jahre lang volontierte Gottschalk beim damaligen „Mitteldeutschen Express“. Mit diesem hatte der DuMont-Verlag versucht, in der Region eine eigene Boulevardzeitung zu etablieren. 1995 wurde das Experiment beendet. Da war Gottschalk schon in Hamburg angekommen, nachdem er von 1992 bis 1994 im Geschirr der „Abendzeitung“ in München Aufmerksamkeit erregt hatte. Die 20 Jahre währende Liaison mit Springer aber prägte Gottschalk, und Gottschalk prägte die Sportberichterstattung.

Chefreporter bei „Sport Bild“, Sportchef von „Welt“ und „Welt am Sonntag“, schließlich bis Ende 2008 Chefredakteur der „Sport Bild“ – dann fiel Gottschalk in eine Sinnkrise: „Ich war durch, dieser permanente Schlagzeilendruck ging mir nach sechs Jahren an die Substanz“, erinnert er sich. Damals habe er eine Auszeit gebraucht, „in der ich dann auch wirklich ein, zwei Jahre in keinem Stadion mehr war“. Es war die Zeit, als ihn Springer-Boss Mathias Döpfner zu sich holte und im die Leitung des „Vorstandsbüros Zeitungen“ übertrug.

„Die Distanz zum Fußball hat mir im Rückblick unglaublich gutgetan und mir die Chance verschafft zu entdecken, warum ich diesen Sport so liebe.“ Er fand unter anderem die Kraft zurück, nach seinem Intermezzo bei der Funke-Gruppe in Essen Ende 2018 einen eigenen Newsletter zu gründen. Jeden Morgen Punkt 6.10 Uhr erscheint seither der „Fever Pit’ch“, namentlich inspiriert von „Fever Pitch“, einem autobiographischen Fußballbuch von Nick Hornby aus dem Jahr 1992. Jede Nacht „ein, zwei Stunden“ wendet Gottschalk dafür auf.

Der Lohn sind fast 26.000 Abonnenten, nach einem kühnen Start im Miami-Urlaub mit rund 800 Empfängern. Gelesen werde sein Morning Briefing heute „von wirklich vielen und auch wirklich wichtigen Leuten“ in der Szene. Dass Inhalte daraus in Pressespiegeln von Vereinen und Unternehmen auftauchen, „das habe ich mir in den vergangenen dreieinhalb Jahren hart erarbeitet“. Auch das ist Pit Gottschalk: selbstbewusst, unerschütterlich, manchmal eine Spur drüber. Er geht gerne voran, er entscheidet gern, und er hat den Dreh raus. Nichts weniger.

Auch wenn es Gottschalk beruflich inzwischen nach Ismaning bei München verschlug, sein Lebensmittelpunkt bleibt in Hamburg-Eppendorf. Der stolze Vater zweier Söhne hat nach eigenem Bekunden „das große Glück, eine Lebensgefährtin zu haben, die meine Fußball-Verrücktheit teilt“. Der ältere der beiden Sprösslinge, 14 Jahre alt, wurde vor einiger Zeit ins Nachwuchsleistungszentrum des HSV aufgenommen. Einst kickte er bei Victoria Hamburg, Heimat von Stefan Effenberg. Der sechsjährige Bruder probiert sich indes noch aus.

Bei Sport1 sieht sich Gottschalk in der Rolle des „,Trainers’ – „vielleicht wurde ich deshalb verpflichtet, weil ich Mannschaften besser mache“. 70 bis 80 Leute habe er im Team, pendle zwischen Hamburg und München, verbringe vier Fünftel der Zeit in Ismaning. Dort hat er seit Anfang 2020 aufgeräumt, Strukturen gestrafft, Kanal-Silos abgebaut, das Produkt nach vorne gestellt. Die neue Philosophie illustriert das Sport1-Direktorium unter Gottschalk, seit Juli mit vier Personen: für Live, Talk, News sowie den Bereich eSports & Special Projects.

Beim Aufbau einer crossmedial integrierten Sportredaktion griff Gottschalk auch auf Inhalte aus seiner MBA-Arbeit zurück (Titel: Transformation von Redaktionen“). Insgesamt rund 20 „Touch Points“ hat die Marke Sport1, will werbewirksam für „Sportainment“ stehen. Ihm komme zugute, dass er nicht nur ausgebildeter Journalist sei, sondern studierter Betriebswirt, sagt Gottschalk. Dies habe „zu relevanten Kosteneffekten bei gleichzeitiger Steigerung des Outputs geführt“. Auch wenn noch viel zu tun sei: „Ich bin auf das Erreichte stolz!“

Text: Bijan Peymani

Fotos: Nadine Rupp