Gegen TikTok punkten – Pfeffers Nachrichtenplattform für Europa

Für viel Aufmerksamkeit sorgte zuletzt die Clap-News um den geplanten Aufbau einer europäischen Nachrichtenplattform. Kreativer Geist hinter der Idee ist der langjährige TV-Experte Matthias Pfeffer (im Bild). Aufgrund des großen Interesses kommentiert er hier noch einmal ausführlicher seine Motivation dahinter. Sein Credo: „Mehr Europa wagen. Neue Wege aus der digitalen Abhängigkeit.“ Los geht’s:

„Als der Zukunftsrat der öffentlich-rechtlichen Anstalten vor kurzem seinen langen erwarteten Bericht vorlegte, rieb man sich im angebrochenen Jahr der Europa-Wahl erstaunt die Augen: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, so stand dort zu lesen, solle für die Deutschen da sein, und zudem für diejenigen, die sich dauerhaft in Deutschland aufhielten. Was möglicherweise als Aufforderung zur Ausweitung des Auftrages gemeint war, nämlich neben „den Deutschen“ die Nicht-Deutschen im Land nicht zu vergessen, zeugt in Wahrheit von einer erschreckenden Blindheit gegenüber der Wirklichkeit, in der die Welt seit langem angekommen ist. Dass Deutschland, weder was Wohlstand noch was Demokratiestandards betrifft, keine Insel ist, sollte nach Pandemie und russischem Angriffskrieg auf die Ukraine selbst denen klar geworden sein, die es nach vielen Jahrzehnten der Globalisierung des Handels und der Problemlagen noch nicht verstanden hatten.

Stattdessen legt seit Jahren eine Partei in den Umfragen zu, die es fertigbringt, das Unwort vom Dexit in die politische Debatte zu werfen, und damit den wirtschaftlichen Selbstmord der Exportnation Deutschland aus selbst aufgebauschter Angst vor deren Tod zu fordern. Ausdruck einer entstellten Öffentlichkeit, in der längst schon kein Raum mehr ist, Debatten mit dem Ziel zu führen, dass die besseren Argumente sich durchsetzen. Die immer noch sogenannten sozialen Medien, die schon lange die neue Medienrealität definieren, haben diesen öffentlichen Raum in eine Arena der Aufregungsmaximierung verwandelt, die allein ihren Profitinteressen dient, und dafür Propagandisten Tür und Tor öffnet.

2024 hat Europa die Wahl und bei dieser Wahl ist vieles anders als zuvor: Zum ersten Mal werden im verstärkten Maße die neuen generativen KIs eingesetzt, die nie gekannte Möglichkeiten zur Manipulation der Massen haben. Und in Deutschland dürfen bei dieser Wahl zum ersten Mal schon 16-Jährige über die Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes entscheiden. Fragt man, wo diese Generation ihre Informationen be- und ihre Meinungsbildung vollzieht, lautete die Antwort darauf: Tiktok.

Die chinesische Plattform hat längst weltweit die Kinder und Jugendzimmer erobert. Wer sich als Teenager ein Bild der Welt macht, tut das in aller Regel in den Blitzlichtgewitterclips von Tiktok, in dem Influencer, Stars und Möchtegern-Stars Klick an Klick neben Propagandisten wahlweise aus Russland, Nordkorea oder dem Iran laut um Aufmerksamkeit schreien. Die Logik der Algorithmen, die bestimmen, was für diese Zielgruppe relevant ist und sichtbar wird, wird bei diesem chinesischen Unternehmen ganz sicher nicht nach Kriterien bestimmt, die dem Ideal einer demokratischen Willensbildung entsprechen oder auch nur mit der psychologischen Entwicklung von Heranwachesende vereinbar sind. Der Raum aber, in dem Informationen über die Welt bezogen und Meinungen eingeübt werden, ist der zentrale Betriebsraum der Demokratie.

Geht es um diesen Betriebsraum, ist man beim Kernauftrag der öffentlich-rechtlichen Medien angelangt. Doch fragt man sie, wie sie die junge Zielgruppe noch erreichen, lautet die Antwort: durch Angebote auf Tiktok und Instagram. Die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, anstatt dort, wo man möchte, dass sie sind, das ist seit den Anfängen der Digitalisierung ist ein geflügeltes Wort von Medienmachern. Doch längst zeigt sich, wer dabei das Sagen hat: Um bei Tiktok und Co erfolgreich zu sein, muss man in letzter Konsequenz auch Inhalte herstellen, die den erbarmungslosen Gesetzen der Algorithmen der Aufmerksamkeitsökonomie gehorchen. Eine Studie der Heinz Böckler Stiftung zeigte, dass öffentlich-rechtliche Anstalten ihre Inhalte zunehmend den Algorithmen der Big Tech Plattformen anpassen. Während sie so junges Publikum erreichen, verlieren sie allerdings ihren öffentlich-rechtlichen Kern zugunsten eines subjektiven Betroffenheitskults aus den Augen. Die Folge: von der Darstellung einer gefühlten Wirklichkeit zu gefühlten Fakten ist es nicht mehr weit.

Dabei waren sie nie so wichtig wie heute: öffentlich eingerichtete und finanzierte, rechtstaatlich organisierte und dadurch unabhängige, und der Öffentlichkeit, die sie bezahlt, verpflichtete Medien, die zwischen Fakten und Fiktionen unterscheiden und vertrauenswürdige Informationen für eine Wissensgesellschaft liefern, die darauf als ihren wichtigsten Rohstoff angewiesen ist. Das geht nur, wenn dieser Kernauftrag in den Mittelpunkt gestellt wird und -ebenso wichtig- eine eigene, diesem öffentlich-rechtlichen Auftrag entsprechende Infrastruktur geschaffen wird.

Eine Infrastruktur, die eigene Such- und Empfehlungsalgorithmen bieten muss, die nicht in die Enge von Selbstbestätigungsblasen, sondern in die Weite des Blickes für und von anderen führen. Diese Software übt heute maßgebliche Meinungsmacht aus, indem sie entscheidet, was wir von der Welt erfahren.  Vor allem kann sie die Digitalisierung für Ihre Zwecke nutzen, in dem sie KI gestützte Übersetzungssoftware entwickelt und einsetzt, die eine Echtzeitübersetzung in alle Sprachen Europas ermöglicht. Mit der Überwindung der Sprachgrenzen ist ein historischer Schritt für Europa möglich, wie eine Studie des DFKI im Auftrag des Europaparlaments im vergangenen Jahr gezeigt hat.

Erstmals kann Verständigung über Sprachgrenzen hinweg in ganz Europa erfolgen. Ein europäisches Pfingstwunder wechselseitiger Verständigung, ermöglicht durch KI. Wenn Hanna Arendt recht hat, dass die Fähigkeit, die Perspektive des Anderen einzunehmen, der Anfang des Politischen ist, so hat Europa heute die historische Chance, sich politisch handlungsfähig zu machen. Und zwar durch die Einrichtung eines Nachrichten- und Informationsnetzwerks von Medienanbietern, das allen Bürgern Zugang zu vertrauenswürdigen Informationen ermöglicht. Und das in allen 24 europäischen Amtssprachen.

Ein solches europäisches Nachrichtennetzwerk ist eben nicht die zentralistische Perspektive von Brüssel oder Straßburg auf Europa, sondern die Zusammenschau der vielfältigen nationalen und regionalen Perspektiven auf die gemeinsamen Herausforderungen. Ein dezentrales Netzwerk, das die Vielfalt Europas für Europa sichtbar machen kann. Und das schönste: Mit wenig Aufwand könnte ein gemeinsamer europäischer Informations- und Kommunikationsraum entstehen, der mit einem Schlag die Medienvielfalt in allen Mitgliedsländern erhöhen würde. Nicht eine Minute neuen Materials, kein neuer Artikel müsste für diesen Vielfaltsgewinn produziert werden.

Es reicht, das zu verbinden und zugänglich zu machen, was bereits existiert und im Falle der öffentlich-rechtlichen Sender mit 27 Milliarden Euro pro Jahr von den Bürgern Europas finanziert wird. Ganz nebenbei würde ein Markt von nahezu 500 Millionen Mediennutzern entstehen, die nicht mehr durch Sprachgrenzen getrennt sind. Was wäre eine bessere Zukunftsausrichtung der Öffentlich-Rechtlichen, als diese öffentlich finanzierte Informationsmacht auch endlich allen Bürgern in ganz Europa öffentlich zugänglich zu machen?

Umberto Eco sagte einst, die Sprache Europas sei die Übersetzung. Wenn das stimmt, dann haben wir mit KI den Schlüssel zu einem besseren Verständnis und zum weiteren Zusammenwachen Europas in der Hand. Warum sperren wir damit nicht die Tür zu einer demokratischen und friedlichen Zukunft auf? Und warum tun wir das nicht im Superwahljahr 2024, wo viele weltweit wichtige Weichenstellungen vorgenommen werden? Wagen wir es also, uns unserer eigenen europäischen Mittel zu bedienen, um den Weg aus der selbstverschuldeten digitalen Abhängigkeit von wenigen Big Tech Plattformen zu finden. Sapere Aude, Europa!

Matthias Pfeffer ist Gründungsdirektor des Councils for European Public Space, das sich für eine europäische Öffentlichkeit einsetzt. Von ihm erschien Zuletzt „Menschliches Denken und Künstliche intelligenz. Eine Aufforderung.“ im J.H.W.Dietz Verlag.

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