Bily wundert sich: über den Umzugsplan von Gruner+Jahr

Andy Möller würde beschwören: Gütersloh, Köln oder Hamburg – Hauptsache unabhängig! Aber ob das noch so zu halten ist? Was bei G+J passiert, ähnelt eher einem schleichenden Rückzug im Reich der Bertelsmänner.

Wie konnte es so weit kommen mit einem Unternehmen, das noch vor zehn Jahren als größter und führender Verlag Europas galt? Julia Jäkel versprach noch 2015 in einem Interview: „Wir schaffen Neues und bringen es zum Wachsen“. Das Versprechen hätte allerdings lauten müssen: „Wir machen reinen Tisch und sind bereit zum Schrumpfen.“

Nach außen versucht man, die grün-weiße Fahne so lange wie möglich im sichtbaren Bereich zu schwenken, bevor sie im Kölner Keller der RTL-Requisite eingerollt wird. Außer Herr Rabe beauftragt für VOX mal das Historien-Drama „Sturm auf den Baumwall“. Mit Aufarbeitung der unvergessenen Milestones der Jäkel-Ära: Der G+J Rückzug aus USA, Frankreich, Spanien, Österreich und der Stuttgarter Motorpresse. Ein Rückzug auf breiter Front.

Digitalisierung? Als Marken wie „Schöner Wohnen“ oder „Capital“ es verpassten, einen gewichtigen digitalen Fußabdruck ins Internet zu treten.

Vermarktung? Wie es dazu kam, dass die Ad Alliance die G+J Vermarktung ins Ausstragsstüberl schickte.

Ein Ära gespickt mit Heften wie „Barbara“, „Joko“, „Guido“ und „Boa“. „Boa“?!? Ein Magazin über Boateng hätte nicht mal Hansi Flick abgesegnet.

So bleibt im Ergebnis: Die Assets des ehemals wirklich und mit Abstand besten Verlagshauses wurden erst nüchtern herunter und dann hinüber nach Gütersloh moderiert. Es hätte viele Chancen gegeben, sich neu zu erfinden. Die Zutaten waren vorhanden: Starke Marken, Glaubwürdigkeit, echte Qualität (also nicht die, die heute mit dem Wort Qualitätsjournalismus bemüht wird), gutes Netzwerk, reichlich Geld… Nur das Rezept wollte nicht gelingen.

Aus Angst vor Bedeutungsverlust klebten Verleger und Journalisten viel zu lange am alten Auslaufmodell. „Geo“ hat Anfang 2021 eine Bezahlschranke eingeführt. Das wirft die Frage auf: Wo haben die Verantwortlichen die letzten zehn Jahre gelebt? Anscheinend im Regenwald ohne Internetzugang oder im Hamburger Lohsepark bei der Pflege seltener Falter-Arten – die schließlich die Umzugspläne torpedierten.

Unterm Strich ereilt G+J nur ein Schicksal, das auch andere Unternehmen in anderen Branchen heimsucht: Sie werden geschluckt, übernommen oder integriert. Die Besonderheiten der Verlagsbranche sind, dass Fallhöhe und Fallgeschwindigkeit enorm sind, und es in der Branche Leute gibt, die gerne Geschichten über Aufstieg und Niedergang schreiben.

Digitalstratege und Ex-Verlagsfachmann Thomas Bily schreibt regelmäßig für Clap. Mehr über ihn erfahren Sie auf seiner Webseite digital-age.marketing