Causa Reichelt: neun offene Fragen

Zum Thema Reichelt-Abgang ist mittlerweile fast alles gesagt und geschrieben. Clap hat dennoch noch ein paar Zwischentöne aufgeschnappt, die im Mediengetöse bislang fast untergegangen sind und stellt einige offene Fragen in den Raum:
 
1. Hätte Dirk Ippen eine gut ausgestattete Presseabteilung bei seinem Verlag, dann hätte wohl vermieden werden können, dass er nun als Verhinderer von investigativen Recherchen dasteht. Oder hätte er doch einfach möglichst geschwiegen, wie es früher so oft Andreas Fritzenkötter beim Bauer Verlag bei kritischen Anfragen gemacht hat. Hat der Verleger ein Kommunikationsproblem?
 
2. Julian Reichelt agierte früher in einer Doppelspitze mit Tanit Koch. In der Nachbetrachtung fällt auf – erst seit ihrem Weggang ist bei „Bild“ so richtig Feuer unterm Dach. Hätte es Döpfner bei der Doppelspitze mit Tanit Koch belassen sollen?
 
3. Der „Stern“, respektive Chefredakteur Florian Gless, forderte gestern den Rücktritt von Springer-Chef Mathias Döpfner. Ob es so kommt? Eher unwahrscheinlich. Aber beim BDZV, deren Präsident Döpfner ist, läuft es für ihn nicht mehr so richtig rund. Es knirschte schon beim Facebook-Deal Anfang des Jahres. Kommt nun von Döpfner eine Charme-Offensive beim BDZV?
 
4. Der „Spiegel“ und „Bild“ werden so schnell keine Freunde mehr. Den Relotius-Skandal beim Wochenmagazin schlachtete „Bild“ vor Jahren knallhart aus. Jetzt kommt fast täglich ein neuer kritscher Artikel aus Hamburg, leitende „Bild“-Redakteure, wie Julian Röpcke, reagieren genervt. Eine Retourkutsche vom „Spiegel“?
 
 
5. Reichelts Vorgänger Kai Diekmann war und ist ein Mediendompteur erster Klasse. Er wusste als „Bild“-Chefredakteur, wie die Kommunikationsbranche tickt. Reichelt hatte scheinbar nicht so viele Freunde im Medienbusiness. Verpasste er es, Freund und Feind in entscheidenen Situationen auf seine Seite zu ziehen?
 
6. „Bild“-Chefredakteure sollten Draufgänger sein. So wie es auch Reichelts Vorgänger waren. Doch Macho-Typen mit aufgeknöpftem Hemd sind im Mediengeschäft selten geworden. Der ursprünglich von der „Süddeutschen Zeitung“ kommende Johannes Boie wird höchstwahrscheinlich ganz andere Manieren an den Tag legen. Ist die Personalie Boie deshalb die überraschendste des Jahres?
 
7. Vor kurzem war „Bild“-Vize Paul Ronzheimer noch der Held aus Kabul. Und in der Amazon-Serie „Bild. Macht. Deutschland?“ war er einer der Protagonisten neben Reichelt. Wie stehen eigentlich dessen weitere Karrierechancen als „Ex-Reichelt-Boygroup-Mitglied“?
 
 
8. Unter dem Claim „Jede Wahrheit braucht eine Mutige, die sie ausspricht“ war Alice Schwarzer eine zeitlang Testimonial für die „Bild“. Ob sie jetzt nochmal an so einer Aktion teilnehmen wird?
 
9. Julian Reichelt hat den Start des jungen Senders Bild TV mit geprägt. Wer wird seine Aufgaben an dieser Stelle übernehmen?
 
Die Medienwelt wird sich wohl noch eine zeitlang mit Axel Springer beschäftigen können. (dh)
 
Fotos: Axel Springer, Amazon, Screenshot